1.FONTE: internet
2.TITOLO: "Komisches Gefühl" [Una strana sensazione]
3.INDICE: Drei Jahre nach den NATO-Bomben beginnt in Pancevo das
langsame Sterben [Tre anni dopo le bombe della NATO ha inizio a
Pancevo la morte lenta]
4.SITO INTERNET: http://www.akweb.de/ak_s/ak463/37.htm
5.AUTORE: Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 463 / 21.06.2002;
il giornalista Boris Kanzleiter.
6.NUMERO DI PAGINE: 4.
7.DATA: 21.06.2002.
[Nota: chi avesse la possibilita' di tradurre in italiano questo
importante articolo e' pregato di contattarci: <jugocoord@...>.
Ringraziamo Alberto e Zivkica per la segnalazione.]
ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 463
/ 21.06.2002
"Komisches Gefühl"
Drei Jahre nach den NATO-Bomben beginnt in Pancevo das langsame
Sterben
"Immer mehr Leute in der Stadt sterben an Krebs", sagt Ivan Zafirovic
fast beiläufig. Der schlacksige junge Mann sitzt in seinem Büro im
zweiten Stock des Rathauses von Pancevo und wippt in einem
Plastikledersessel. Als einziger Abgeordneter der Grünen Partei im
Stadtparlament ist er zuständig für den Umweltschutz. Zafirovic blickt
hilflos auf Unterlagen, die sich vor ihm auf dem Tisch stapeln. Es
sind Berichte über die ökologischen Folgen der NATO-Bombardements vor
drei Jahren. "Heute sterben viel mehr Leute als vor den Bombardements
1999. Aber es ist ein Tabu darüber zu reden", wiederholt er sich.
An 17 Tagen und Nächten trafen im Frühjahr vor drei Jahren
Marschflugkörper und Bomben Ziele in der knapp 100.000 EinwohnerInnen
zählenden Stadt. Was Zehntausenden Arbeit und bescheidenen Wohlstand
einbrachte, wurde zum Fluch für die BewohnerInnen. Pancevo ist einer
der wichtigsten Industriestandorte in Jugoslawien. Hier, nur zwanzig
Kilometer die Donau entlang flussabwärts hinter der
Zwei-Millionen-Metropole Belgrad, konzentriert sich die petrochemische
Industrie des Landes. Benzin, Düngemittel, Kunststoffe, Lacke und Öle
stellen die ArbeiterInnen im Industrierevier her.
"Am 24. März 1999 um 20:40 Uhr schlugen die ersten Bomben ein",
erinnert sich Ivan Zafirovic. Der 24. März war der erste Tag des
Krieges, fünf Tage zuvor waren die Hoffnungen auf eine
Verhandlungslösung im Kosovo-Konflikt im Schloss Rambouillet bei Paris
gescheitert. "Zuerst trafen die Bomben die Fabrik Lola Utva, dort
wurden Kleinflugzeuge für die Landwirtschaft montiert", sagt
Zafirovic. Dann, in den folgenden Wochen, trafen die Bomben die
Raffinerie, die Düngemittelfabrik Azotara und die Kunststofffabrik
Petrohjemija. Immer wieder bis zum letzten Tag des Kriegs am 8. Juni,
als ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde und sich die
jugoslawische Armee aus dem Kosovo zurückzog.
"Es ist ein Tabu darüber zu reden"
Die Bombenangriffe auf Pancevo wurden akribisch dokumentiert. Schon im
Oktober 1999, nur vier Monate nach Ende des Krieges, veröffentlichte
das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) einen ausführlichen
Bericht über die ökologischen Konsequenzen der Bombardements. Die
ExpertInnen der Genfer Behörde hatten in den Wochen nach dem Abschluss
der Waffenstillstandsvereinbarung Recherchereisen durch Jugoslawien
unternommen und mit WissenschaftlerInnen und AugenzeugInnen vor Ort
versucht, eine Bestandsaufnahme durchzuführen. Pancevo identifizierten
sie neben der Industriestadt Kragujevac als "am schlimmsten"
betroffen.
"Es war ein Albtraum", sagt Zafirovic und versucht zu lächeln, denn
schließlich ist das alles schon so lange her. "Die Bomben haben große
Teile der Tanks getroffen, in denen die Grundstoffe für die Produktion
gelagert waren." Insbesondere in der Woche zwischen dem 13. und dem
20. April geriet die Bevölkerung in Panik. In jeder Nacht rasten die
Cruise Missiles in das Industriegebiet, das direkt an ein Wohnviertel
anschließt. Flammen loderten in den Nachthimmel. Tagsüber blieb es
dunkel, weil sich eine gewaltige Rauchwolke über die Stadt wölbte.
Erst als es anfing zu regnen, lichtete sich der Himmel. "Auf den
Autos, auf den Straßen, überall klebte ein schwarzer schmieriger
Schleim", erinnert sich der junge Abgeordnete. "Viele Menschen sind
damals aus Pancevo zu Freunden oder Verwandten nach Belgrad oder in
andere Städte geflüchtet", erzählt er. "Die Menschen hatten Angst.
Viele schwangere Frauen haben abgetrieben, weil sie sich vergiftet
vorkamen." Dazu hatten ihnen die Ärzte in den Krankenhäusern geraten.
Die Katastrophe kam unerwartet über die Stadt. Pancevo liegt in der
Vojvodina-Region, die Grenze zu Ungarn und Rumänien ist viel näher als
Pristina. Von den Auseinandersetzungen im Süden lasen die Menschen nur
in der Zeitung. Dass die Fabriken in der Nachbarschaft gefährlich
waren, wussten sie allerdings genau. "Die Chemieindustrie war schon
immer eine Bedrohung", sagt Zafirovic. "Die Arbeiter hier sterben
jung." Beim Aufbau der jugoslawischen Chemieindustrie in den 60er und
70er Jahren spielten Umweltbestimmungen keine wichtige Rolle. Als
"Pancevo-Krebs" bezeichneten die Ärzte eine Krankheit, unter der
insbesondere die Arbeiter der PVC-Fabrik Petrohjemija litten, ein
Krebs, der die Leber befällt. Verantwortlich dafür machten sie
hauptsächlich die Chemikalien Ethylen-Dichlorid (EDC) und
Vinyl-Chlorid-Monomer (VCM), die Grundstoffe der PVC-Produktion. Der
"Pancevo-Krebs" greift nun weiter um sich, denn es sind gerade diese
Chemikalien, die durch die NATO-Bomben in großem Umfang freigesetzt
wurden.
Das Umweltlexikon beschreibt die Wirkung von Ethylen-Dichlorid:
"Hautreizend, narkotisierend, mutagen und karzinogen" ist der Stoff.
Die Vergiftungssymptome bestehen aus "Kopfschmerzen, Übelkeit mit
Erbrechen, blutigen Durchfällen, Koliken, tiefer Narkose".
Langzeitbelastung verursacht "Depressionen und Magenbeschwerden mit
Erbrechen". Es drohen "starke Organschädigungen (Leber, Niere, Blut).
Erhöhung der Frühgeburts- und Totgeburtenrate". Auch Vinylchlorid wird
als "eindeutig Krebs erzeugender Stoff" ausgewiesen. "Es kann kein
medizinisch unbedenklicher Grenzwert festgelegt werden, da jede noch
so geringe Konzentration schädigend wirkt", heißt es. Für
Arbeitsplätze gilt in Deutschland die Überschreitung einer
Konzentration von 3 ppm (ml/m3) als nicht mehr tolerierbar. In
Jugoslawien liegt der Grenzwert bei 5 ppm (ml/m3).
Die Messteams des Institutes für Gesundheitsschutz in Pancevo haben am
18. April 1999, die Fabriken brannten lichterloh, an verschiedenen
Punkten der Stadt eine VCM-Konzentration gemessen, die den
jugoslawischen Grenzwert um das 7.200- bis 10.600fache überschritt.
Der Berichte der UNEP nennt weitere Zahlen. In der Plastikfabrik
Petrohjemija flossen 2.100 Tonnen des giftigen Ethylen-Dichlorid (EDC)
aus. 460 Tonnen Vinyl-Chlorid-Monomer (VCM) verbrannten.
Auch andere toxische Substanzen wirbelten mit den Flammen durch die
Luft, versickerten im Boden oder flossen in die Donau. Acht Tonnen
Quecksilber wurden in Petrohjemija freigesetzt, ein Schwermetall, das
sich in der Nahrungskette anreichert. Und in der neben der
Plastikfabrik liegenden Raffinerie verbrannten nach Angaben der Genfer
ExpertInnen mindestens 80.000 Tonnen Rohöl und Ölprodukte. Dabei
entstanden ebenfalls Krebs erregende polyzyklische aromatische
Kohlenwasserstoffe (PAH).
"Gesundheitssystem ist pleite"
Nicht alle Substanzen wurden unmittelbar durch die Bombardierungen
freigesetzt. Zwei Tage nachdem am 13. April die massive Angriffswelle
eingesetzt hatte, entschlossen sich die Geschäftsführer der
Kunstdüngerfabrik Azotara, 250 Tonnen flüssiges Ammoniak in einen
offenen Kanal zu leiten, der in die Donau führt. Dort setzte
anschließend ein Fischsterben ein, aber die Azotara-Manager hatten
Schlimmeres befürchtet, wären Bomben in die vollen Tanks gefallen.
Tatsächlich wurden die entleerten Tanks einen Tag später getroffen.
"Es war gut, dass die UNEP-Experten so schnell vor Ort waren", meint
Ivan Zafirovic. "Wir wissen nun, was damals geschah." Aber seitdem sei
so gut wie nichts passiert, um die Bevölkerung zu schützen. Zwar könne
man die Vergiftung nicht mehr rückgängig machen, aber heute würden die
Bauern auf den Feldern Gemüse produzieren, über die damals der
schwarze Regen niederging. Noch nicht einmal verlässliche Statistiken
über die Todesfälle gibt es, erklärt Zafirovic. "Das Gesundheitssystem
ist pleite und es gibt auch keine Vergleichswerte zu früher."
Roeland Kortas ist Chef des Clean-Up-Programms der UNEP. Mit seinen
zehn Mitarbeitern sitzt er in einem Büro im Belgrader Stadtviertel
Zemun, dort wo Sava und Donau zusammenfließen, um vereint in Richtung
Schwarzes Meer zu fließen. Clean Up ist eigentlich das falsche Wort
für Kortas' Arbeit. "Bisher wurden keine Maßnahmen ergriffen, um
Wasser und Böden in Pancevo zu entgiften", sagt er. "Wir können uns
nur auf die dringendsten Aufgaben konzentrieren." Und diese bestehen
momentan beispielsweise darin, einen Abwasserkanal zu sichern, der vom
bombardierten Pancevoer Industriegebiet in die Donau führt. In diesem
Kanal landeten Tonnen gefährlicher Substanzen, die sich weiter zu
verbreiten drohen. "Bei der Bombardierung ist die Kläranlage zerstört
worden", erläutert Kortas. An anderen Orten versucht die UNEP
ausgelaufene Chemikalien einzusammeln, die Verbreitung von
kontaminiertem Grundwasser einzudämmen oder hochgradig vergiftete
Böden abzutragen. Es geht darum zu verhindern, dass die Schäden nicht
noch größer werden, könnte man den Ansatz der UNEP zusammenfassen.
"Die UNEP hat nach dem Krieg in Jugoslawien 26 Projekte identifiziert,
die dringend durchgeführt werden müssten, um das Gesundheitsrisiko für
die Bevölkerung zu reduzieren. Für die Umsetzung benötigen wir 20
Millionen Dollar", sagt Kortas. Bis jetzt seien bei Sammelaktionen in
den europäischen Hauptstädten aber nur 11 Millionen zusammengekommen.
Deutschland ist mit 870.000 Dollar dabei. Während die NATO-Staaten in
den drei Kriegsmonaten etwa 12 Milliarden Dollar ausgaben, um den
Angriff auf Jugoslawien zu führen, scheint nun kein Geld mehr in den
Kassen zu sein, um dem Land beim Wiederaufbau zu helfen. "Um wirklich
Clean Up durchzuführen, würden wir hunderte von Millionen Dollar
benötigen", sagt Kortas. "Aber Umweltschutz ist keine Top-Priorität."
Im Stadtkern von Pancevo sitzen Jugendliche in den Cafes.
Straßenverkäuferinnen versuchen eine Zeitung loszuwerden. Lieferwagen
biegen um die Ecke. Die Menschen kaufen ein, gehen zur Arbeit oder
fahren ins nahe Belgrad, um ins Kino zu gehen. Drei Jahre nach dem
Bombardement simulieren die Menschen Normalität. "Die Leute hier
versuchen alles zu vergessen", meint Alexandar Weisner. Er ist
Mitglied einer Friedensgruppe und hat mit seinen FreundInnen in den
vergangenen zehn Jahren den oft aussichtslos scheinenden Kampf gegen
Nationalismus und Krieg geführt. Heute versucht er die Menschen auf
die Umweltkatastrophe aufmerksam zu machen. Aber die Bevölkerung ist
wie gelähmt. "Die Leute haben andere Probleme. Die Arbeitslosigkeit
ist hoch und die Löhne liegen bei 150 Euro im Monat. Alle versuchen
irgendwie zu überleben", sagt er.
Niemand scheint ein Interesse zu haben, über die Folgen der
Bombardements zu reden. "Die Regierung käme doch unter den Druck der
Bevölkerung etwas zu tun", meint Weisner. "Aber es gibt kein Geld",
sagt er. Nach Angaben des serbischen Ministerpräsidenten Zoran
Djindjic haben die NATO-Bombardements Schäden in Höhe von fünf
Milliarden Dollar verursacht. Von den versprochenen großzügigen
Hilfeleistungen nach dem Sturz Slobodan Milosevic' sind bisher gerade
500 Millionen Dollar überwiesen worden. Überall ist dringender
Investitionsbedarf. Krankenhäuser und Schulen sind in einem
erbärmlichen Zustand, die ohnehin niedrigen Löhne können oft nicht
ausgezahlt werden.
"Fast jeder kennt jemanden, der krank ist
Auch die internationale Gemeinschaft schweigt lieber. Käme die
Zerstörung der Fabriken von Pancevo zur Sprache, müssten viele Fragen
beantwortet werden, die man in Brüssel, Berlin oder Washington lieber
nicht hören möchte. Warum wurden die Fabriken von Pancevo bombardiert,
obwohl dort gar keine Waffen hergestellt wurden? Ging es den
NATO-Zielplanern also um die Zerstörung eines wichtigen
Industriekomplexes, um die Wirtschaftskraft des Landes zu schwächen?
Oder wollten sie nur die Raffinerie zerstören, die immerhin die größte
in Jugoslawien war und Treibstoffe herstellte? Warum wurden aber dann
die Kunststofffabrik und die Düngemittelfabrik an mehreren aufeinander
folgenden Tagen bombardiert? In den Zusatzprotokollen zu den Genfer
Konventionen steht, dass "Kriegführung, die ausgedehnte, lang
anhaltende oder schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursacht",
verboten ist. Warum hat das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag
selbst Ermittlungen gegen die NATO-Planer abgelehnt?
Alexandar Weisner weiß es nicht. Doch er weiß etwas anderes: "Fast
jeder hier kennt jemanden, der krank ist. Das ist ein komisches
Gefühl."
Boris Kanzleiter
Auf Kommentare, Anregungen und Kritik freuen sich AutorInnen und
ak-Redaktion
www.akweb.de © analyse & kritik, Rombergstr. 10, 20255 Hamburg
2.TITOLO: "Komisches Gefühl" [Una strana sensazione]
3.INDICE: Drei Jahre nach den NATO-Bomben beginnt in Pancevo das
langsame Sterben [Tre anni dopo le bombe della NATO ha inizio a
Pancevo la morte lenta]
4.SITO INTERNET: http://www.akweb.de/ak_s/ak463/37.htm
5.AUTORE: Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 463 / 21.06.2002;
il giornalista Boris Kanzleiter.
6.NUMERO DI PAGINE: 4.
7.DATA: 21.06.2002.
[Nota: chi avesse la possibilita' di tradurre in italiano questo
importante articolo e' pregato di contattarci: <jugocoord@...>.
Ringraziamo Alberto e Zivkica per la segnalazione.]
ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 463
/ 21.06.2002
"Komisches Gefühl"
Drei Jahre nach den NATO-Bomben beginnt in Pancevo das langsame
Sterben
"Immer mehr Leute in der Stadt sterben an Krebs", sagt Ivan Zafirovic
fast beiläufig. Der schlacksige junge Mann sitzt in seinem Büro im
zweiten Stock des Rathauses von Pancevo und wippt in einem
Plastikledersessel. Als einziger Abgeordneter der Grünen Partei im
Stadtparlament ist er zuständig für den Umweltschutz. Zafirovic blickt
hilflos auf Unterlagen, die sich vor ihm auf dem Tisch stapeln. Es
sind Berichte über die ökologischen Folgen der NATO-Bombardements vor
drei Jahren. "Heute sterben viel mehr Leute als vor den Bombardements
1999. Aber es ist ein Tabu darüber zu reden", wiederholt er sich.
An 17 Tagen und Nächten trafen im Frühjahr vor drei Jahren
Marschflugkörper und Bomben Ziele in der knapp 100.000 EinwohnerInnen
zählenden Stadt. Was Zehntausenden Arbeit und bescheidenen Wohlstand
einbrachte, wurde zum Fluch für die BewohnerInnen. Pancevo ist einer
der wichtigsten Industriestandorte in Jugoslawien. Hier, nur zwanzig
Kilometer die Donau entlang flussabwärts hinter der
Zwei-Millionen-Metropole Belgrad, konzentriert sich die petrochemische
Industrie des Landes. Benzin, Düngemittel, Kunststoffe, Lacke und Öle
stellen die ArbeiterInnen im Industrierevier her.
"Am 24. März 1999 um 20:40 Uhr schlugen die ersten Bomben ein",
erinnert sich Ivan Zafirovic. Der 24. März war der erste Tag des
Krieges, fünf Tage zuvor waren die Hoffnungen auf eine
Verhandlungslösung im Kosovo-Konflikt im Schloss Rambouillet bei Paris
gescheitert. "Zuerst trafen die Bomben die Fabrik Lola Utva, dort
wurden Kleinflugzeuge für die Landwirtschaft montiert", sagt
Zafirovic. Dann, in den folgenden Wochen, trafen die Bomben die
Raffinerie, die Düngemittelfabrik Azotara und die Kunststofffabrik
Petrohjemija. Immer wieder bis zum letzten Tag des Kriegs am 8. Juni,
als ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde und sich die
jugoslawische Armee aus dem Kosovo zurückzog.
"Es ist ein Tabu darüber zu reden"
Die Bombenangriffe auf Pancevo wurden akribisch dokumentiert. Schon im
Oktober 1999, nur vier Monate nach Ende des Krieges, veröffentlichte
das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) einen ausführlichen
Bericht über die ökologischen Konsequenzen der Bombardements. Die
ExpertInnen der Genfer Behörde hatten in den Wochen nach dem Abschluss
der Waffenstillstandsvereinbarung Recherchereisen durch Jugoslawien
unternommen und mit WissenschaftlerInnen und AugenzeugInnen vor Ort
versucht, eine Bestandsaufnahme durchzuführen. Pancevo identifizierten
sie neben der Industriestadt Kragujevac als "am schlimmsten"
betroffen.
"Es war ein Albtraum", sagt Zafirovic und versucht zu lächeln, denn
schließlich ist das alles schon so lange her. "Die Bomben haben große
Teile der Tanks getroffen, in denen die Grundstoffe für die Produktion
gelagert waren." Insbesondere in der Woche zwischen dem 13. und dem
20. April geriet die Bevölkerung in Panik. In jeder Nacht rasten die
Cruise Missiles in das Industriegebiet, das direkt an ein Wohnviertel
anschließt. Flammen loderten in den Nachthimmel. Tagsüber blieb es
dunkel, weil sich eine gewaltige Rauchwolke über die Stadt wölbte.
Erst als es anfing zu regnen, lichtete sich der Himmel. "Auf den
Autos, auf den Straßen, überall klebte ein schwarzer schmieriger
Schleim", erinnert sich der junge Abgeordnete. "Viele Menschen sind
damals aus Pancevo zu Freunden oder Verwandten nach Belgrad oder in
andere Städte geflüchtet", erzählt er. "Die Menschen hatten Angst.
Viele schwangere Frauen haben abgetrieben, weil sie sich vergiftet
vorkamen." Dazu hatten ihnen die Ärzte in den Krankenhäusern geraten.
Die Katastrophe kam unerwartet über die Stadt. Pancevo liegt in der
Vojvodina-Region, die Grenze zu Ungarn und Rumänien ist viel näher als
Pristina. Von den Auseinandersetzungen im Süden lasen die Menschen nur
in der Zeitung. Dass die Fabriken in der Nachbarschaft gefährlich
waren, wussten sie allerdings genau. "Die Chemieindustrie war schon
immer eine Bedrohung", sagt Zafirovic. "Die Arbeiter hier sterben
jung." Beim Aufbau der jugoslawischen Chemieindustrie in den 60er und
70er Jahren spielten Umweltbestimmungen keine wichtige Rolle. Als
"Pancevo-Krebs" bezeichneten die Ärzte eine Krankheit, unter der
insbesondere die Arbeiter der PVC-Fabrik Petrohjemija litten, ein
Krebs, der die Leber befällt. Verantwortlich dafür machten sie
hauptsächlich die Chemikalien Ethylen-Dichlorid (EDC) und
Vinyl-Chlorid-Monomer (VCM), die Grundstoffe der PVC-Produktion. Der
"Pancevo-Krebs" greift nun weiter um sich, denn es sind gerade diese
Chemikalien, die durch die NATO-Bomben in großem Umfang freigesetzt
wurden.
Das Umweltlexikon beschreibt die Wirkung von Ethylen-Dichlorid:
"Hautreizend, narkotisierend, mutagen und karzinogen" ist der Stoff.
Die Vergiftungssymptome bestehen aus "Kopfschmerzen, Übelkeit mit
Erbrechen, blutigen Durchfällen, Koliken, tiefer Narkose".
Langzeitbelastung verursacht "Depressionen und Magenbeschwerden mit
Erbrechen". Es drohen "starke Organschädigungen (Leber, Niere, Blut).
Erhöhung der Frühgeburts- und Totgeburtenrate". Auch Vinylchlorid wird
als "eindeutig Krebs erzeugender Stoff" ausgewiesen. "Es kann kein
medizinisch unbedenklicher Grenzwert festgelegt werden, da jede noch
so geringe Konzentration schädigend wirkt", heißt es. Für
Arbeitsplätze gilt in Deutschland die Überschreitung einer
Konzentration von 3 ppm (ml/m3) als nicht mehr tolerierbar. In
Jugoslawien liegt der Grenzwert bei 5 ppm (ml/m3).
Die Messteams des Institutes für Gesundheitsschutz in Pancevo haben am
18. April 1999, die Fabriken brannten lichterloh, an verschiedenen
Punkten der Stadt eine VCM-Konzentration gemessen, die den
jugoslawischen Grenzwert um das 7.200- bis 10.600fache überschritt.
Der Berichte der UNEP nennt weitere Zahlen. In der Plastikfabrik
Petrohjemija flossen 2.100 Tonnen des giftigen Ethylen-Dichlorid (EDC)
aus. 460 Tonnen Vinyl-Chlorid-Monomer (VCM) verbrannten.
Auch andere toxische Substanzen wirbelten mit den Flammen durch die
Luft, versickerten im Boden oder flossen in die Donau. Acht Tonnen
Quecksilber wurden in Petrohjemija freigesetzt, ein Schwermetall, das
sich in der Nahrungskette anreichert. Und in der neben der
Plastikfabrik liegenden Raffinerie verbrannten nach Angaben der Genfer
ExpertInnen mindestens 80.000 Tonnen Rohöl und Ölprodukte. Dabei
entstanden ebenfalls Krebs erregende polyzyklische aromatische
Kohlenwasserstoffe (PAH).
"Gesundheitssystem ist pleite"
Nicht alle Substanzen wurden unmittelbar durch die Bombardierungen
freigesetzt. Zwei Tage nachdem am 13. April die massive Angriffswelle
eingesetzt hatte, entschlossen sich die Geschäftsführer der
Kunstdüngerfabrik Azotara, 250 Tonnen flüssiges Ammoniak in einen
offenen Kanal zu leiten, der in die Donau führt. Dort setzte
anschließend ein Fischsterben ein, aber die Azotara-Manager hatten
Schlimmeres befürchtet, wären Bomben in die vollen Tanks gefallen.
Tatsächlich wurden die entleerten Tanks einen Tag später getroffen.
"Es war gut, dass die UNEP-Experten so schnell vor Ort waren", meint
Ivan Zafirovic. "Wir wissen nun, was damals geschah." Aber seitdem sei
so gut wie nichts passiert, um die Bevölkerung zu schützen. Zwar könne
man die Vergiftung nicht mehr rückgängig machen, aber heute würden die
Bauern auf den Feldern Gemüse produzieren, über die damals der
schwarze Regen niederging. Noch nicht einmal verlässliche Statistiken
über die Todesfälle gibt es, erklärt Zafirovic. "Das Gesundheitssystem
ist pleite und es gibt auch keine Vergleichswerte zu früher."
Roeland Kortas ist Chef des Clean-Up-Programms der UNEP. Mit seinen
zehn Mitarbeitern sitzt er in einem Büro im Belgrader Stadtviertel
Zemun, dort wo Sava und Donau zusammenfließen, um vereint in Richtung
Schwarzes Meer zu fließen. Clean Up ist eigentlich das falsche Wort
für Kortas' Arbeit. "Bisher wurden keine Maßnahmen ergriffen, um
Wasser und Böden in Pancevo zu entgiften", sagt er. "Wir können uns
nur auf die dringendsten Aufgaben konzentrieren." Und diese bestehen
momentan beispielsweise darin, einen Abwasserkanal zu sichern, der vom
bombardierten Pancevoer Industriegebiet in die Donau führt. In diesem
Kanal landeten Tonnen gefährlicher Substanzen, die sich weiter zu
verbreiten drohen. "Bei der Bombardierung ist die Kläranlage zerstört
worden", erläutert Kortas. An anderen Orten versucht die UNEP
ausgelaufene Chemikalien einzusammeln, die Verbreitung von
kontaminiertem Grundwasser einzudämmen oder hochgradig vergiftete
Böden abzutragen. Es geht darum zu verhindern, dass die Schäden nicht
noch größer werden, könnte man den Ansatz der UNEP zusammenfassen.
"Die UNEP hat nach dem Krieg in Jugoslawien 26 Projekte identifiziert,
die dringend durchgeführt werden müssten, um das Gesundheitsrisiko für
die Bevölkerung zu reduzieren. Für die Umsetzung benötigen wir 20
Millionen Dollar", sagt Kortas. Bis jetzt seien bei Sammelaktionen in
den europäischen Hauptstädten aber nur 11 Millionen zusammengekommen.
Deutschland ist mit 870.000 Dollar dabei. Während die NATO-Staaten in
den drei Kriegsmonaten etwa 12 Milliarden Dollar ausgaben, um den
Angriff auf Jugoslawien zu führen, scheint nun kein Geld mehr in den
Kassen zu sein, um dem Land beim Wiederaufbau zu helfen. "Um wirklich
Clean Up durchzuführen, würden wir hunderte von Millionen Dollar
benötigen", sagt Kortas. "Aber Umweltschutz ist keine Top-Priorität."
Im Stadtkern von Pancevo sitzen Jugendliche in den Cafes.
Straßenverkäuferinnen versuchen eine Zeitung loszuwerden. Lieferwagen
biegen um die Ecke. Die Menschen kaufen ein, gehen zur Arbeit oder
fahren ins nahe Belgrad, um ins Kino zu gehen. Drei Jahre nach dem
Bombardement simulieren die Menschen Normalität. "Die Leute hier
versuchen alles zu vergessen", meint Alexandar Weisner. Er ist
Mitglied einer Friedensgruppe und hat mit seinen FreundInnen in den
vergangenen zehn Jahren den oft aussichtslos scheinenden Kampf gegen
Nationalismus und Krieg geführt. Heute versucht er die Menschen auf
die Umweltkatastrophe aufmerksam zu machen. Aber die Bevölkerung ist
wie gelähmt. "Die Leute haben andere Probleme. Die Arbeitslosigkeit
ist hoch und die Löhne liegen bei 150 Euro im Monat. Alle versuchen
irgendwie zu überleben", sagt er.
Niemand scheint ein Interesse zu haben, über die Folgen der
Bombardements zu reden. "Die Regierung käme doch unter den Druck der
Bevölkerung etwas zu tun", meint Weisner. "Aber es gibt kein Geld",
sagt er. Nach Angaben des serbischen Ministerpräsidenten Zoran
Djindjic haben die NATO-Bombardements Schäden in Höhe von fünf
Milliarden Dollar verursacht. Von den versprochenen großzügigen
Hilfeleistungen nach dem Sturz Slobodan Milosevic' sind bisher gerade
500 Millionen Dollar überwiesen worden. Überall ist dringender
Investitionsbedarf. Krankenhäuser und Schulen sind in einem
erbärmlichen Zustand, die ohnehin niedrigen Löhne können oft nicht
ausgezahlt werden.
"Fast jeder kennt jemanden, der krank ist
Auch die internationale Gemeinschaft schweigt lieber. Käme die
Zerstörung der Fabriken von Pancevo zur Sprache, müssten viele Fragen
beantwortet werden, die man in Brüssel, Berlin oder Washington lieber
nicht hören möchte. Warum wurden die Fabriken von Pancevo bombardiert,
obwohl dort gar keine Waffen hergestellt wurden? Ging es den
NATO-Zielplanern also um die Zerstörung eines wichtigen
Industriekomplexes, um die Wirtschaftskraft des Landes zu schwächen?
Oder wollten sie nur die Raffinerie zerstören, die immerhin die größte
in Jugoslawien war und Treibstoffe herstellte? Warum wurden aber dann
die Kunststofffabrik und die Düngemittelfabrik an mehreren aufeinander
folgenden Tagen bombardiert? In den Zusatzprotokollen zu den Genfer
Konventionen steht, dass "Kriegführung, die ausgedehnte, lang
anhaltende oder schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursacht",
verboten ist. Warum hat das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag
selbst Ermittlungen gegen die NATO-Planer abgelehnt?
Alexandar Weisner weiß es nicht. Doch er weiß etwas anderes: "Fast
jeder hier kennt jemanden, der krank ist. Das ist ein komisches
Gefühl."
Boris Kanzleiter
Auf Kommentare, Anregungen und Kritik freuen sich AutorInnen und
ak-Redaktion
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