(Una recentissima intervista allo scrittore tedesco Peter Handke "sul
piacere di scrivere, sulla guerra jugoslava e sulle passeggiate nei
boschi")
http://www.zeit.de/2006/06/L-Handke-Interv_?page=all
DIE ZEIT 01.02.2006 Nr.6
Ich komme aus dem Traum
Ein ZEIT-Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Handke über die Lust
des Schreibens, den jugoslawischen Krieg und das Gehen in den Wäldern
DIE ZEIT: Es war an einem späten Abend im Januar 1988, als wir
einander aus schierem Zufall in der Pariser Metro begegnet sind. Bei
einem Glas Wein erzählten Sie mir, Sie kämen aus Ägypten und hätten
schon seit vielen Wochen mit keinem Menschen mehr gesprochen. Es war
die Zeit, von der Sie in Ihrem Tagebuch Gestern unterwegs erzählen.
Von Ägypten ist darin wenig die Rede.
Peter Handke: Dort konnte ich nur wenig notieren. Ich war ein bisschen
krank. Und ich konnte nicht für mich sein, weil ich mich ständig von
Händlern und Bettlern bedrängt sah. Ich habe mich dadurch gerettet,
dass ich in eines dieser Teehäuser ging, mich zu den anderen setzte
und an der Wasserpfeife sog oder vielmehr so tat, als ob. Da fand ich
Ruhe.
ZEIT: Sie sind dann drei Jahre lang quer durch die halbe Welt gereist,
nach Japan, Alaska, Schottland, Frankreich, Spanien, Slowenien und
noch weiter. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass Sie auf
irgendwelche Flughäfen gegangen sind und einfach den nächsten Flug
genommen haben.
Handke: Manchmal war das so.
ZEIT: 1989 brach die DDR zusammen und damit eine ganze Welt. In Ihrem
Tagebuch verlieren Sie darüber fast kein Wort.
Handke: Ich kann nur dann etwas aufschreiben, wenn mir Sprache
zufliegt, Dinglichkeit. Es war mir nie im Sinn, ein zeitgenössisches
Journal zu schreiben. Es sind Reflexe, die erweitert sind, nicht
gerade zu Reflexionen, aber zu Läufen, zu Sprachläufen.
ZEIT: Sie schreiben nicht über persönliche Dinge, über Kopfschmerzen
oder schlechte Betten.
Handke: Ich fand das nicht beschreibenswert. Was ich spüre, muss
festgehalten werden in der Form, in der es sich jetzt zeigt. Dem gehe
ich nach, dem gebe ich Luft durch Sprache, und zugleich verfestige ich
es. Oft waren die Erlebnisse so überwältigend, dass ich eine Scheu
hatte mitzuschreiben. Mein Tagebuch Das Gewicht der Welt war eine
Reportage des Bewusstseins. In Gestern unterwegs habe ich manches
mitgeschrieben, anderes für den nächsten Morgen aufgehoben, bis es
durch den Kopf, durch den Körper gegangen war. Pythagoras hat seine
Schüler dazu angehalten, so lange in den Betten zu bleiben, bis sie
sich vergegenwärtigen konnten, was am Vortag gewesen war.
ZEIT: Wird es dadurch klarer?
Handke: Das Aufschreiben hat mich ortsfest gemacht. Oft wusste ich
nicht, wo ich aufgewacht bin. Man kommt in der Nacht an und sieht nur
Umrisse. Und wenn ich mich am nächsten Morgen in irgendeinem Hotel
hingesetzt habe, um den Vortag aufzuschreiben, war das wie einkaufen
gehen oder das Kind zur Schule bringen.
ZEIT: Ihre Reisen wirken wie Exerzitien. Könnten Sie sich vorstellen,
als Mönch zu leben?
Handke: Oh nein. Ich bin ein Epikuräer. Warum sollte ich auf die Dinge
verzichten, die mir Freude machen? Der Wein zum Beispiel ist eine der
schönsten Erfindungen, er hat mir schon oft gut getan.
ZEIT: Aber Ihre Reisen waren doch keine Vergnügungsreisen.
Handke: Eigentlich schon, ich bin ja zum Vergnügen auf der Welt.
ZEIT: Im Schneesturm durch Hokkaido zu wandern ist ein Vergnügen?
Handke: Aber natürlich. Wenn man dann in Sicherheit ist, die Schwelle
überschritten hat zur Wärme, wird es ein Vergnügen gewesen sein, um im
Futurum exaktum zu sprechen. Jedes Mal wenn man sich aus einer
brenzligen Situation befreit, wenn man denkt, es geht nicht weiter,
wenn man total minimalisiert ist als Mensch und dann über die Schwelle
kommt, merkt man plötzlich, was Leben ist. Diese Übergänge sind das
Fruchtbarste überhaupt. Das schöne Problem der Schwelle beschäftigt
mich seit über 30 Jahren, und es hilft mir immer noch weiter. Es
schubst mich weiter. Schon für mich als Schüler war das Lernen ein
Vergnügen, das Betrachten, Schauen, Übergehen in das Gesehene. Nein,
es ist nicht Vergnügen, es ist Freude. Manchmal ist es das Einswerden
mit den Formen. Man empfindet nicht mehr, dass man der Gefangene der
Historie ist. Man sieht die andere Geschichte, die mich seit je
beschäftigt hat.
ZEIT: Was ist die andere Geschichte?
Handke: Die Historie der Farben, des Versmaßes, der Formen,
japanischer Tuschzeichnungen etwa oder romanischer Skulpturen, auch
des Geschichtenerzählens. Das ist nicht zu realisieren, außer eben im
poetischen Machen.
ZEIT: Ist Ihnen das einmal gelungen?
Handke: Ich erzähle davon. Darauf geht alles hin, was ich schreibe. Es
ist nicht nur Utopie, es ist auch real, das Realste überhaupt. Es ist
ein Vorschlag, ein Traum von Geschichte. Sonst gäbe es ja auch die
Evangelien nicht, gäbe es das Buch Hiob nicht, wenn das Erzählen nicht
auf eine andere Welt zuginge, auf eine Hinterwelt im besseren Sinne,
wie eine Hinterglasmalerei.
ZEIT: Eine Revolte gegen Geschichtsphilosophie?
Handke: Ich bin fast der Überzeugung, ich betone das Wort fast, dass
der philosophische Begriff von Geschichte ein Euphemismus ist.
Geschichte ist nicht zu denken. Hegel hat daraus einen Denkbegriff
gemacht, das ist für mich ein Schmäh. So wird Geschichte nur zum
ewigen Kreislauf von Schweinereien. Ja, es gibt Fortschritte,
Fortschritte der Menschenrechte, auch technische Fortschritte, aber
jeder Fortschritt erzeugt woanders eine Katastrophe. Ich glaube nicht,
dass die Urzeit schlimmer war. Heute ist es nur anders schlimm oder
anders gut.
ZEIT: Denken Sie an das Glücksrad der Fortuna?
Handke: Man könnte es eher ein Lichtrad nennen: Wenn das Licht hierhin
fällt, wird es anderswo umso finsterer. Ich mache daraus keine
Ideologie, aber ich spüre es in mir.
ZEIT: Kommt daher Ihr Wunsch, dem Augenblick Geltung zu verschaffen?
Handke: Das ist kein Vorsatz. So bin ich halt gemacht. Vielleicht ist
es eine Art Krankheit, aber ich mag meine Krankheit.
ZEIT: Wenn man Ihre Bücher liest, ertappt man sich bei seiner eigenen
Unaufmerksamkeit und denkt, das hättest du auch sehen können, wenn du
dir die Zeit genommen hättest. Aber die hat man oft nicht.
Handke: Das nehme ich Ihnen nicht ab. Jeder hat genug Zeit.
ZEIT: Man hat sie, aber man nimmt sie sich nicht.
Handke: Jeder hat eine andere Natur, Gott sei Dank. Ich bin nicht da,
um anderen ein Beispiel zu geben, ich will mich nur selber ermahnen,
mir selber die Bilder geben, den Rhythmus geben. Wenn ich zum Beispiel
einen Tag nicht gelesen habe, schreibe ich: »Tag ohne lesen«, und das
ist wie eine Sünde. Lesen verstanden als Entziffern, Nachspüren. Oder
ich notiere: »Tag ohne Gang in die Wälder.« Ich nehme extra den
Plural, weil der Wald hier sehr verschieden ist, sich für mich in
verschiedene Wälder aufteilt. Ein Tag ohne den Gang in die Wälder ist
ein Versäumnis.
ZEIT: Und Schreiben?
Handke: Ich bin kein fanatischer Schreiber. Nur wenn ich dann im Tun
bin, wird es ausschließlich. Vorher drücke ich mich, solange ich kann.
Indem Sie jetzt hier sind, berauben Sie mich der Wälder. Sonst wäre
ich längst unterwegs. Morgen werde ich schreiben: »Tag ohne Wälder,
nur gequasselt.«
ZEIT: Schade, dass es so früh dunkel wird, sonst hätten wir den Gang
durch die Wälder gemeinsam noch machen können.
Handke: Ich gehe nicht mehr mit anderen, außer mit meiner Tochter. Der
will ich die Wälder nicht gerade zeigen, aber doch anmuten lassen. Ich
mag nicht sagen: Schau mal das oder das, ich gehe mit ihr langsam, in
der Hoffnung, dass sie etwas wahrnimmt, und manchmal sieht sie sogar
besser als ich. Natürlich möchte ich ihr die Stellen, wo man
Steinpilze findet, zeigen, so wie früher die Großväter die Enkel in
die Wälder mitgenommen haben, damit sie, wenn die Großväter einmal
nicht mehr da sind, die Stellen kennen. Ich hatte einmal vor, einen
Plan der Wälder zu machen, wo die Kostbarkeiten aufzuspüren sind, so
wie der Plan der Schatzinsel von Stevenson. Diese Insel habe ich als
Kind total wörtlich genommen, ich dachte, das stimmt alles.
ZEIT: Manche glauben, dass es die Insel gegeben hat.
Handke: In der Hauptsache ist sie wohl erfunden. Es gibt nichts
Schöneres, als, wie Hesse gesagt hat, das Wagnis der Fiktion
einzugehen. Wenn das Schiff der Fiktion parallel zur Realität fährt
das ist für mich ein universelles Erlebnis.
ZEIT: Dann erzählen Sie eine Geschichte.
Handke: Ich erfinde nicht nur Geschichten, auch Wörter. Und natürlich
spielen Träume eine Rolle. Die Träume sind ja verschwunden aus der
Literatur, dabei sind sie ihr Ursprung. Bei den meisten
Schriftstellern sehe ich keinen Traum mehr. Ich komme aus dem Traum.
ZEIT: Wandern, lesen, schreiben machen Sie das vor allem für sich
selber, oder sehen Sie auch den Leser vor sich?
Handke: Als ich das aus der Luft herausgegriffen habe um ein anderes
Wort für notieren zu nehmen , habe ich keineswegs an irgendeinen
Leser gedacht. Vor einem Jahr ungefähr hatte ich gerade den Versuch
über das Gericht in Den Haag und den Besuch bei Milo∆evi hinter mir,
und ich verspürte das Bedürfnis, weiterzutun im Schreiben, und da habe
ich mir die 15 Jahre alten Notizbücher hergenommen. Nach zwei, drei
Seiten war ich begeistert nicht von mir, sondern von der Bewegung
der Reisestationen. Das hat mich lebendig gemacht, und zugleich habe
ich mir gesagt, das soll nicht dich lebendig machen, sondern andere,
und dann habe ich das Ganze kopiert, aber vieles weggelassen. Sonst
lese ich meine früheren Sachen nie, es sei denn, es kommt mal eine
fremdsprachige Ausgabe daher, dann schaut man hinein, und zu seiner
eigenen Schande bleibt man doch länger drin.
ZEIT: Warum Schande?
Handke: Ich bin dann immer gerührt von mir selbst.
ZEIT: Und das mögen Sie nicht.
Handke: Im Moment schon, aber dann geht's immer weiter, und ich bin
immer gerührter, es kommen mir die Tränen, über die Welt, über mein
Tun, was ich gemacht hab.
ZEIT: Es ist jetzt genau 40 Jahre her, dass Ihr erstes Buch erschienen
ist, Die Hornissen. Sie sind dann sehr schnell ein Star der
Literaturszene geworden.
Handke: Aber nicht durch die Hornissen. Durch Princeton, wo ich
blöderweise das Maul aufgerissen habe, und durch die
Publikumsbeschimpfung.
ZEIT: Sie haben damals einen Brief an Ihre Mutter geschrieben. »Mach
Dir keine Sorgen um mich, ich werde sicher weltberühmt.« Haben Sie das
geglaubt?
Handke: Ich habe nie gedacht, dass ich je eine Chance hätte, nie. Ich
habe mich mit den Hornissen einfach retten wollen. Im Studium habe ich
die schwarze Wolke des Nichts vor mir gesehen. Ich habe immer Kafka
bewundert, der es geschafft hat, sein Studium zu vollenden und in den
Beruf zu gehen. Ich konnte das nicht. Dabei war ich ein guter
Jurastudent, ich habe sehr viel auf eigene Faust gelernt, aber ich
habe keine Antwort bekommen von den Professoren. Man braucht ja
irgendwie eine Erotik. Dann habe ich die Hornissen geschrieben. Man
muss sich vorstellen, was das damals bedeutete, aus dem Winkel, aus
dem ich kam, ein Buch bei Suhrkamp zu machen.
ZEIT: Jedenfalls sind Sie sehr rasch erfolgreich geworden. Sie konnten
sich eine Wohnung leisten, Reisen unternehmen.
Handke: Ja, zum Glück. Der größte Erfolg war ganz einfach der, dass
ich schreiben konnte und publiziert wurde. Sich die Zeit zu nehmen,
sie fruchten zu lassen, das ist schon ein Erfolg. Und dann die Sache
zu Ende zu bringen. Die Hornissen zu schreiben war ja nicht leicht,
denn damals gab es eine große Krise. Man fragte zu Recht: Was ist
Schreiben, wie schreibt man, warum schreibt man, ist Schreiben noch
erlaubt? Heute fragt man das nicht mehr. Ich empfinde diese Schwelle
immer noch, den Gedanken, dass das Schreiben eigentlich nicht sein
darf. Heute ist eine ungeheure Geläufigkeit da, einerseits erfreulich,
andererseits fragwürdig. Diese Schwelle überwunden zu haben, das war
Erfolg. Das erste Buch, das einen Auflagenerfolg hatte, war die Angst
des Tormanns beim Elfmeter, vier Jahre später. Aber was ist Erfolg
beim In-die-Welt-Gehen der Bücher? Ich habe selten wirklich gespürt,
dass die Bücher gelesen wurden. Vielleicht der Kurze Brief und
Wunschloses Unglück doch, ja, man spürt es an den Briefen von
Lesern. Ich habe den Eindruck, es werden immer weniger Briefe geschrieben.
ZEIT: Heute schreibt man meist E-Mails.
Handke: Damit habe ich nichts zu tun. Aber es gibt immer noch
herrliche Briefe von Lesern, und wenn ich ein oder zwei im Monat
erhalte Nicht, dass ich davon lebe, aber die kann ich manchmal gar
nicht beantworten, so schön sind sie.
ZEIT: Leiden Sie unter dem Älterwerden?
Handke: Nein. Ich habe zwar nicht gerade heiter die Räume
durchschritten, wie Goethe das gerne von sich gehabt hätte, aber ich
habe die Räume durchstöbert. In meinen Büchern kann man das vergehende
und das sich entwerfende Leben ziemlich genau ahnen. Man kann sehen,
was ein Schriftsteller ist, was Schreiben ist, was Leben im Schreiben
ist. Sonst hätte das alles ja keinen Sinn. Ich bin nie ein Profi
geworden. Ich bin ein Handwerker nur in dem, was ich nicht tue, nur im
Vermeiden.
ZEIT: Lesen Sie gegenwärtige Autoren?
Handke: Ich lese gerne und bin neugierig. Ich bin zutraulich wie ein
Tier, das zum Futtertrog geht, ich freue mich, wenn ich Joseph Zoderer
lese oder Ralf Rothmann oder Walter Kappacher oder Florian Lipus. Das
sind wertvolle Sachen. Wertvoll ist ein dummer Ausdruck, ich weiß,
aber immer noch besser als das, was ihr Kritiker immer sagt,
»wunderbar« oder »großartig«. Solche Wörter müsste man euch verbieten.
ZEIT: Sie haben gesagt, eine Möglichkeit bestehe für Sie immer nur
einmal. Schreiben Sie mit jedem Buch etwas Neues?
Handke: Ein neuen Ansatz vielleicht. Man kann die Comédie humaine
nicht noch mal schreiben. Balzac hat den neuen Menschen des 19.
Jahrhunderts beschrieben, mit der Kraft eines Titanen, voller Sanftmut
und Unbarmherzigkeit. Dieses horizontale Gemälde geht nicht mehr,
heute muss man vertikal schreiben. Aber es wird dadurch vermutlich
enger, vielleicht auch tiefer. Auch ich habe, so kommt es mir vor,
eine Art Comédie humaine dahergestümpert, aber sie ist subjektiv.
Balzac wollte ja objektiv sein. Auch Flaubert, was nicht immer von
Vorteil war. Er hat sich in seinen späteren Büchern verirrt. Wer hat
sich nicht verirrt? Vielleicht Goethe nicht. Es hätte ihm nicht geschadet.
ZEIT: Sie haben sich lange nicht mehr mit ihm beschäftigt.
Handke: Ja, er muss bald wieder drankommen.
ZEIT: Mögen Sie ihn?
Handke: Nach ein paar Sätzen von ihm, ähnlich wie bei Hölderlin,
kriegt man Lichtadern eingezogen. Man spürt, wie sich's gehört. Aber
mögen? Ich kenne ihn nicht. Ich würde ihn gerne kennen lernen,
spiritistisch vielleicht.
ZEIT: Auch er hat gerne Wein getrunken. Ich glaube, keinen besonders
guten.
Handke: Wer weiß. Oft ist der alltägliche Wein der beste. Ich mag
Schriftsteller nicht bewundern. Aber ab und zu bin ich voller
Verehrung für Geschriebenes, voller Freude und auch Sportsgeist. Es
gibt so viele gute Bücher, die kein Mensch mehr liest.
ZEIT: Die meisten Romane heute sind irgendwie realistisch. Das sind
Ihre Bücher eigentlich nie.
Handke: Ich kann nicht nacherzählen, ich kann nur vorerzählen. Bei der
langen Geschichte vom Bildverlust wollte ich möglichst genau die
Geschichte der Sierra de Gredos erzählen. Je näher ich ihr kam, desto
klarer wurde mir: Ich muss alles erfinden.
ZEIT: Warum müssen Sie erfinden?
Handke: Das Erfinden gibt mir ein Triumphgefühl. Wenn ich spüre, es
gibt eine Gegenwelt, die nicht unbedingt der tagtäglichen Welt
widerspricht, aber sie beleuchtet, dann habe ich ein Gefühl von
ZEIT: Macht?
Handke: nicht Macht, sondern von Etwas-gemacht-Haben. Und letzten
Endes das Gefühl, jetzt habe ich das Recht zu leben, zu schreiben. Nur
durch die Erfindung habe ich dieses Recht. Bei Gestern unterwegs habe
ich dieses Gefühl nicht, es ist, als ob es gar nicht von mir wäre, es
mir zugeflogen, durch mich durchgeflogen und wieder aus mir
herausgeflogen wäre.
ZEIT: Der Realismus ist auch eine Erfindung.
Handke: Ja, schon, aber ich bin kein Realist. Cervantes ist auch kein
Realist. Die mittelalterlichen Epen sind auch nicht realistisch. Sie
sind märchenhaft, aber märchenhaft in einem schneidenden Sinn. In der
Abwesenheit habe ich den Parzival fast kopiert. Als ich ihn damals
las, dachte ich, das ist die Form, so lässt die Welt sich erzählen,
so, wie ich sie sehe, fühle und vor allem träume. Denken kann man die
Welt eh nicht. Die Abwesenheit ist im Grunde die gekürzte Fassung von
Wolframs Parzival.
ZEIT: Das habe ich, offen gestanden, nicht gemerkt.
Handke: Soll man ja auch nicht. Bei euch in der ZEIT stand neulich ein
Interview mit dem Sekretär der Schwedischen Akademie. Der Herr sagte,
die Literatur habe sich geändert, Fiktion sei zweitrangig geworden.
Ohne Fiktion aber kann man die Literatur abschaffen. Es sind
ehrenwerte Schreiber, die er genannt hat, wie etwa Kapuczynski, der
aufschlussreiche Reportagen schreibt, aber das kann man doch nicht
Literatur nennen. Man darf nicht alles vermischen, das ist skandalös.
Man muss nur eine Seite von einem Buch lesen, und man sieht: Das ist
Sprache oder eben nicht. Sprache, nicht Stil, das ist ein Unterschied.
Sie lesen eine Seite und wissen: endlich Sprache, endlich Zittern,
aber auch die Sprachlosigkeit in der Sprache. Beides.
ZEIT: Kann man das lernen?
Handke: Es ist kein Handwerk. Das kommt später dazu. Aber der Anfang
ist nie mit Handwerk zu schaffen. Ich verstehe nicht, wie man das
Schreiben in Schreibschulen lernen will.
ZEIT: Korrigieren Sie viel?
Handke: Sehr viel. Ich schreibe seit fünfzehn Jahren mit Bleistift
außer die Theaterstücke, die ich mit der Maschine tippe. Wenn
gesprochen wird, dann muss irgendetwas knallen. Die Prosa schreibe ich
mit Bleistift, und da radiere ich viel. Die Gefahr, mit Bleistift zu
schreiben, besteht darin, dass man in der Stille des Schreibens
vergisst abzusetzen, also Absätze zu machen. Sie hinterher einzufügen
ist nicht gut. Dafür ist die Maschine oder der Computer besser. Aber
die Chance ist eben, dass es eine ganz andere epische Bewegung gibt.
Es spielt auch eine Rolle, dass ich die beiden letzten dicken Bücher,
Die Niemandsbucht und den Bildverlust, oftmals im Freien geschrieben
habe. Im Freien haben sich mir immer wieder neue Räume gezeigt, die
ich nur antupfen musste. Ich habe das als ungeheuer erfreulich
empfunden. Dass es ausschwingen kann in die Räume, die sich im Freien
auftun.
ZEIT: Was war denn die Grundfigur beim Bildverlust? Ich habe das nicht
verstanden.
Handke: Sie haben einen großen Blödsinn darüber geschrieben, so
achtlos, fahrlässig. Bevor Sie kamen heute, habe ich gedacht: Es ist
eigentlich eine Schande, dass dieser Mensch mein Haus betritt. Ich
habe ja immer von Bildern gelebt, von Traumbildern, von Anschauung,
und mit der Zeit bekam ich das Gefühl, dass die Bilder ihre
Gültigkeit, ihre Realität verlieren. Dem wollte ich nachspüren. Ich
erinnerte mich an junge Leute voller Enthusiasmus, voller Unschuld,
denen ich zwanzig Jahre später wieder begegnet bin, und ich sah, dass
diese Begeisterung verschwunden war.
ZEIT: Weil sie älter geworden waren.
Handke: Ja, ich habe mich für Momente wiedererkannt. Es hat mich zu
der Frage gebracht: Wo ist eigentlich die Begeisterung unserer Jugend
geblieben, als wir geschrien haben vor Freude: Wir sind doch alle
aufgebrochen, irgendwohin. Und da habe ich die Geschichte dieser Frau
geschrieben, die die Leute wiederfindet, mit denen sie zusammen war
und deren Begeisterung verschwunden ist, aber vielleicht wieder
geweckt werden kann.
ZEIT: Woher kommen die Kriegsbilder?
Handke: Das hat auch etwas mit Jugoslawien zu tun. Ich hatte die
Vorstellung, dass sich die letzten Menschen da oben im Hochgebirge
sammeln und eine Art Kolonie bilden.
ZEIT: Die Menschen fangen noch einmal von vorn an?
Handke: Ja, die Menschen dort wollen keine Bilder mehr haben, die
Geschichte der Menschheit wird hier wirklich Geschichte. Es geht um
den Konflikt zwischen Bilderglauben und Bildersturm. Ich spüre
manchmal, dass ein neuer Bildersturm an der Zeit wäre. Es geht nicht
so weiter, es ist eine Beleidigung, eine Entseelung, eine
Entleiblichung, was die Bilder mit uns machen. Die Menschen meines
Buchs sind auf der Suche: Wie kann man sich vor den Bildern retten?
ZEIT: Ich als Leser bin verwirrt, weil es in Ihrem Roman keine
Orientierung gibt. Jeder Ort ist zugleich ein anderer.
Handke: Sie sollten nicht sagen: Ich als Leser. Sondern: Der Leser als
Ich. Ja, das glaube ich Ihnen. Wenn Sie Faulkner lesen oder Cervantes,
das ist ab und zu steinig, mühsam. Aber sobald man Vertrauen fasst,
geht man durch die Bewegung hindurch. Das ist Literatur, das ist
Lesen, nicht etwas, was so glatt daherkommt. Ich bemühe mich um
Klarheit, ich möchte nicht dunkel sein. Als ich noch ein junger
Schriftsteller war, stand in irgendeiner Rezension »Der dunkle
Handke«, es hat mir geschmeichelt. Aber das ist lange vorbei. Ich will
Licht sein. Aber ich möchte forschen im Schreiben. Ich will nicht
amerikanisch aufbereitet schreiben. Die deutsche Sprache hat ihr
eigenes Recht, aber auch ihre Schlingen. Wenn man sich ihren
Assoziationen, ihren Klängen völlig hingibt, kann man sich leicht
verlieren. Nicht wenigen Schriftstellern ist das ja passiert.
Andererseits sind wir eben deutschsprachige Schriftsteller, und das
muss man auch merken. Wir können nicht schreiben wie die Amerikaner,
wie die Franzosen. Hätte Eichendorff schreiben sollen wie Flaubert
oder Stendhal?
ZEIT: Eichendorff kann man sich eigentlich in einer anderen Literatur
gar nicht vorstellen.
Handke: Ja, der ist herrlich, die deutsche Literatur hat ihre eigenen
Geschichten, ihren eigenen Fortgang. Das muss man bewahren. Das müssen
Kretins wie ich praktizieren. Und das ist spannend, ist herrlich.
Prosaschreiben ist meine Heimat. Einmal habe ich zwei Jahre lang fast
nur übersetzt. Mit einer bitteren Sehnsucht bin ich zwei Jahre lang um
meinen Schreibtisch herumgeschlichen und dachte, du musst endlich
wieder Prosa schreiben. Aber für mich ist es wichtig, monate- oder
auch mal zwei Jahre lang ohne Schreiben auszukommen, damit Lust und
Bedürfnis sich wieder vereinen.
ZEIT: Ist es nicht so, dass nach langer Pause die Fertigkeit verloren
gehen kann?
Handke: Das nicht, aber eine Geschichte, eine Idee, die man hatte,
kann in dieser Zeit vermodern. Dann kann es passieren, dass man den
Pfingsttag versäumt, um den Anfang zu machen.
ZEIT: Sie haben viele Autoren entdeckt oder wiederentdeckt, Emmanuel
Bove oder Hermann Lenz zum Beispiel.
Handke: Ja, das hatte eine große Wirkung, aber wenn ich heute einen
solchen Autor in der SZ oder der ZEIT vorstellen würde, hätte das fast
keine Wirkung mehr.
ZEIT: Warum?
Handke: Die Aufmerksamkeit ist erschöpft. Die Hinweise auf vergessene
Autoren, die Wiederentdeckungen sind Mode, und der Nutzen wird immer
geringer. Auch habe ich nicht mehr die Stimme wie früher.
ZEIT: Vielleicht liegt das an Ihrer Verteidigung der Serben im
jugoslawischen Krieg.
Handke: Vorsicht, Sie sind hier in meinem Haus.
ZEIT: Ich habe zwar gerade das Messer hier genommen, aber wirklich
nur, um mir ein Stück Käse abzuschneiden.
Handke: Sie werden mich nicht in eine Verteidigung bringen. Ich habe
da nichts zu erklären.
ZEIT: Es gibt viele Buchhandlungen in Österreich, die Ihre Bücher
nicht mehr führen.
Handke: Nicht nur in Österreich, auch in der Schweiz und Deutschland.
Daran seid auch ihr Kritiker schuld. Auf der einen Seite macht ihr im
Feuilleton, wenn ich jetzt mal im Plural reden darf, einen Text wie
den über meinen Besuch bei Milo∆evi oder über meine Reise zu den
Flüchtlingen in Serbien nieder, noch bevor ihr ihn gelesen habt, ihr
blockt ab; und auf der anderen Seite, wenn Gestern unterwegs
erscheint, seid ihr ganz offen und zeigt euch als feine, aufmerksame,
sprachbewusste Leser. Vorher aber habt ihr den Weg zu den Lesern
abgeschnitten, also zu den Buchhandlungen. Die Buchhändler werden
zunehmend moralistisch und gebärden sich als Richter. Eine Bekannte
erzählte mir, sie habe in vier Buchhandlungen gehen müssen, bis sie
endlich Gestern unterwegs erhielt. Ein Buchhändler sagte mir voller
Stolz, er habe alle meine Bücher, als die Winterliche Reise erschien,
aus seinem Laden entfernt.
ZEIT: Das ist idiotisch, das muss ich zugeben, obwohl ich in der Sache
anderer Meinung bin.
Handke: Sie müssen gar nichts zugeben, es geht auch nicht um Meinung.
Meinung haben hat nichts mit Schreiben zu tun. Hat jemals jemand in
einer westlichen Zeitung von den Flüchtlingen, mehr als einer halben
Million, in Serbien erzählt? Nie habe ich etwas darüber gelesen, wie
die vegetieren. Und zum ersten Mal habe ich deren Geschichte erzählt.
Warum geht nicht einer der Reporter der ZEIT, die die Geschichte vom
serbischen Adolf zum siebzigsten Mal als Dossier aufmöbeln, wo doch
die bosnischen Muselmanen und die Kroaten genauso viel Blut am Stecken
haben, zu den serbischen Flüchtlingen? Die kommen aus dem Kosovo, aus
Kroatien, aus Bosnien und werden von den eigenen Landsleuten in
Serbien verachtet. Ich habe darüber geschrieben, ohne irgendeine
Ideologie damit zu verbinden, und ich werde dafür niedergemacht. Zum
ersten Mal kommt einer wie ich nach Srebrenica und erzählt von einer
Mutter, nicht von den Müttern. Ja, es ist ein unverzeihlicher
Racheakt, was die serbische Armee da veranstaltet hat. Aber es ist
eine Rache gewesen an den zerstörten Dörfern rund um Srebrenica. Für
mich habt ihr Deutschen eine große Schuld auf euch geladen, schon mit
der Anerkennung Kroatiens. Euer Herausgeber Joffe hat gesagt, dass das
Wort Auschwitz als Schlagwort verwendet wurde. Aber wer hat damit
angefangen? Es war euer Außenminister Fischer. Scharping hat von KZs
in Prishtina geredet, was ein Unsinn ist. Die Knüppelwörter stammen
von euren Offiziellen. Und die haben den Knüppel benützt, indem sie
den Bombenkrieg mitverantwortet haben.
ZEIT: Es gibt viele Kriege auf der Welt, warum regen Sie sich gerade
über den in Jugoslawien auf?
Handke: Jeder hat sein Land. Der Schriftsteller Péter Esterházy, der
für den Bombenkrieg war, hat gesagt: Ach, dem Peter Handke hat man
sein Spielzeug weggenommen, deswegen ist er so beleidigt. Und der
Esterházy kriegt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Verkehrte Welt. Serbien wurde nie erzählt, und ich habe nur erzählt,
was ich in Serbien gesehen habe.
ZEIT: Mussten Sie den Büchnerpreis zurückgeben?
Handke: Der Büchnerpreis hat ja nichts mit Büchner zu tun, das ist ein
repräsentativer Preis der Bundesrepublik Deutschland.
ZEIT: Was haben Sie gegen die Deutschen?
Handke: Mein Vater war ein Deutscher, er stammte aus einer
Bäckerfamilie im Harz. Ich habe keinen Hass auf Deutschland. Es gibt
viele Deutschlands, das krachlederne Großdeutschland und das
Deutschland der Provinzen, das Deutschland »nebendraußen«, um es mit
einem Wort von Hermann Lenz zu sagen. Das ist mein Deutschland und
wird es bleiben.
ZEIT: Warum sind Sie aus der Kirche ausgetreten?
Handke: Was mich auf die Palme oder vielmehr auf die Serbische Fichte
gebracht hat, war ein Sendschreiben des Bischofs von Amiens. Er hat
den Bombenkrieg gegen Jugoslawien gerechtfertigt mit dem Satz: Wenn
ein Waldbrand herrsche, genüge es nicht, mit dem Eimer zu kommen, man
benötige Löschflugzeuge. Ich scheue mich, mich einen Christen zu
nennen. Aber ich fühle mich in der Nachfolge Christi, ohne dass ich
sein Nachfolger wäre. Er ist für mich die größte Gestalt in der
Geschichte. Der war kein Nazarener, der hatte auch seinen Zorn.
ZEIT: In Gestern unterwegs stößt man immer wieder auf Zitate aus dem
Neuen Testament.
Handke: In der ersten Fassung standen da Seiten um Seiten auf
Griechisch. Ich habe nur weniges übernommen, vor allem, um Lust zu
machen, Griechisch zu lernen. Es ist fast dunkel geworden, soll ich
ein Licht machen?
ZEIT: Nein, so kann ich besser den Garten sehen, die schöne Zeder.
Handke: Es sind zwei, die eine ist eine Libanon-Zeder, die andere eine
Atlantik-Zeder. Links Libanon, rechts Atlantik. Machen wir jetzt
Schluss, ich hole noch einen Wein.
Das Gespräch führte Ulrich Greiner
© DIE ZEIT 01.02.2006 Nr.6
AUS DEM ARCHIV
ZEIT 24/1999: Ein lieber Gast
Peter Handke findet in Serbien andersgelbe Nudelnester und redet
seinen Freunden nach dem Mund ...
http://www.zeit.de/1999/24/199924.handke_.xml
ZEIT 16/1999: Kriegsschauplatz Handke
Der Schriftsteller Michael Scharang fürchtet, daß die poltitischen
Attacken auf Handke dessen Werk beschädigen sollen ...
http://www.zeit.de/1999/16/199916.handke_.xml
piacere di scrivere, sulla guerra jugoslava e sulle passeggiate nei
boschi")
http://www.zeit.de/2006/06/L-Handke-Interv_?page=all
DIE ZEIT 01.02.2006 Nr.6
Ich komme aus dem Traum
Ein ZEIT-Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Handke über die Lust
des Schreibens, den jugoslawischen Krieg und das Gehen in den Wäldern
DIE ZEIT: Es war an einem späten Abend im Januar 1988, als wir
einander aus schierem Zufall in der Pariser Metro begegnet sind. Bei
einem Glas Wein erzählten Sie mir, Sie kämen aus Ägypten und hätten
schon seit vielen Wochen mit keinem Menschen mehr gesprochen. Es war
die Zeit, von der Sie in Ihrem Tagebuch Gestern unterwegs erzählen.
Von Ägypten ist darin wenig die Rede.
Peter Handke: Dort konnte ich nur wenig notieren. Ich war ein bisschen
krank. Und ich konnte nicht für mich sein, weil ich mich ständig von
Händlern und Bettlern bedrängt sah. Ich habe mich dadurch gerettet,
dass ich in eines dieser Teehäuser ging, mich zu den anderen setzte
und an der Wasserpfeife sog oder vielmehr so tat, als ob. Da fand ich
Ruhe.
ZEIT: Sie sind dann drei Jahre lang quer durch die halbe Welt gereist,
nach Japan, Alaska, Schottland, Frankreich, Spanien, Slowenien und
noch weiter. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass Sie auf
irgendwelche Flughäfen gegangen sind und einfach den nächsten Flug
genommen haben.
Handke: Manchmal war das so.
ZEIT: 1989 brach die DDR zusammen und damit eine ganze Welt. In Ihrem
Tagebuch verlieren Sie darüber fast kein Wort.
Handke: Ich kann nur dann etwas aufschreiben, wenn mir Sprache
zufliegt, Dinglichkeit. Es war mir nie im Sinn, ein zeitgenössisches
Journal zu schreiben. Es sind Reflexe, die erweitert sind, nicht
gerade zu Reflexionen, aber zu Läufen, zu Sprachläufen.
ZEIT: Sie schreiben nicht über persönliche Dinge, über Kopfschmerzen
oder schlechte Betten.
Handke: Ich fand das nicht beschreibenswert. Was ich spüre, muss
festgehalten werden in der Form, in der es sich jetzt zeigt. Dem gehe
ich nach, dem gebe ich Luft durch Sprache, und zugleich verfestige ich
es. Oft waren die Erlebnisse so überwältigend, dass ich eine Scheu
hatte mitzuschreiben. Mein Tagebuch Das Gewicht der Welt war eine
Reportage des Bewusstseins. In Gestern unterwegs habe ich manches
mitgeschrieben, anderes für den nächsten Morgen aufgehoben, bis es
durch den Kopf, durch den Körper gegangen war. Pythagoras hat seine
Schüler dazu angehalten, so lange in den Betten zu bleiben, bis sie
sich vergegenwärtigen konnten, was am Vortag gewesen war.
ZEIT: Wird es dadurch klarer?
Handke: Das Aufschreiben hat mich ortsfest gemacht. Oft wusste ich
nicht, wo ich aufgewacht bin. Man kommt in der Nacht an und sieht nur
Umrisse. Und wenn ich mich am nächsten Morgen in irgendeinem Hotel
hingesetzt habe, um den Vortag aufzuschreiben, war das wie einkaufen
gehen oder das Kind zur Schule bringen.
ZEIT: Ihre Reisen wirken wie Exerzitien. Könnten Sie sich vorstellen,
als Mönch zu leben?
Handke: Oh nein. Ich bin ein Epikuräer. Warum sollte ich auf die Dinge
verzichten, die mir Freude machen? Der Wein zum Beispiel ist eine der
schönsten Erfindungen, er hat mir schon oft gut getan.
ZEIT: Aber Ihre Reisen waren doch keine Vergnügungsreisen.
Handke: Eigentlich schon, ich bin ja zum Vergnügen auf der Welt.
ZEIT: Im Schneesturm durch Hokkaido zu wandern ist ein Vergnügen?
Handke: Aber natürlich. Wenn man dann in Sicherheit ist, die Schwelle
überschritten hat zur Wärme, wird es ein Vergnügen gewesen sein, um im
Futurum exaktum zu sprechen. Jedes Mal wenn man sich aus einer
brenzligen Situation befreit, wenn man denkt, es geht nicht weiter,
wenn man total minimalisiert ist als Mensch und dann über die Schwelle
kommt, merkt man plötzlich, was Leben ist. Diese Übergänge sind das
Fruchtbarste überhaupt. Das schöne Problem der Schwelle beschäftigt
mich seit über 30 Jahren, und es hilft mir immer noch weiter. Es
schubst mich weiter. Schon für mich als Schüler war das Lernen ein
Vergnügen, das Betrachten, Schauen, Übergehen in das Gesehene. Nein,
es ist nicht Vergnügen, es ist Freude. Manchmal ist es das Einswerden
mit den Formen. Man empfindet nicht mehr, dass man der Gefangene der
Historie ist. Man sieht die andere Geschichte, die mich seit je
beschäftigt hat.
ZEIT: Was ist die andere Geschichte?
Handke: Die Historie der Farben, des Versmaßes, der Formen,
japanischer Tuschzeichnungen etwa oder romanischer Skulpturen, auch
des Geschichtenerzählens. Das ist nicht zu realisieren, außer eben im
poetischen Machen.
ZEIT: Ist Ihnen das einmal gelungen?
Handke: Ich erzähle davon. Darauf geht alles hin, was ich schreibe. Es
ist nicht nur Utopie, es ist auch real, das Realste überhaupt. Es ist
ein Vorschlag, ein Traum von Geschichte. Sonst gäbe es ja auch die
Evangelien nicht, gäbe es das Buch Hiob nicht, wenn das Erzählen nicht
auf eine andere Welt zuginge, auf eine Hinterwelt im besseren Sinne,
wie eine Hinterglasmalerei.
ZEIT: Eine Revolte gegen Geschichtsphilosophie?
Handke: Ich bin fast der Überzeugung, ich betone das Wort fast, dass
der philosophische Begriff von Geschichte ein Euphemismus ist.
Geschichte ist nicht zu denken. Hegel hat daraus einen Denkbegriff
gemacht, das ist für mich ein Schmäh. So wird Geschichte nur zum
ewigen Kreislauf von Schweinereien. Ja, es gibt Fortschritte,
Fortschritte der Menschenrechte, auch technische Fortschritte, aber
jeder Fortschritt erzeugt woanders eine Katastrophe. Ich glaube nicht,
dass die Urzeit schlimmer war. Heute ist es nur anders schlimm oder
anders gut.
ZEIT: Denken Sie an das Glücksrad der Fortuna?
Handke: Man könnte es eher ein Lichtrad nennen: Wenn das Licht hierhin
fällt, wird es anderswo umso finsterer. Ich mache daraus keine
Ideologie, aber ich spüre es in mir.
ZEIT: Kommt daher Ihr Wunsch, dem Augenblick Geltung zu verschaffen?
Handke: Das ist kein Vorsatz. So bin ich halt gemacht. Vielleicht ist
es eine Art Krankheit, aber ich mag meine Krankheit.
ZEIT: Wenn man Ihre Bücher liest, ertappt man sich bei seiner eigenen
Unaufmerksamkeit und denkt, das hättest du auch sehen können, wenn du
dir die Zeit genommen hättest. Aber die hat man oft nicht.
Handke: Das nehme ich Ihnen nicht ab. Jeder hat genug Zeit.
ZEIT: Man hat sie, aber man nimmt sie sich nicht.
Handke: Jeder hat eine andere Natur, Gott sei Dank. Ich bin nicht da,
um anderen ein Beispiel zu geben, ich will mich nur selber ermahnen,
mir selber die Bilder geben, den Rhythmus geben. Wenn ich zum Beispiel
einen Tag nicht gelesen habe, schreibe ich: »Tag ohne lesen«, und das
ist wie eine Sünde. Lesen verstanden als Entziffern, Nachspüren. Oder
ich notiere: »Tag ohne Gang in die Wälder.« Ich nehme extra den
Plural, weil der Wald hier sehr verschieden ist, sich für mich in
verschiedene Wälder aufteilt. Ein Tag ohne den Gang in die Wälder ist
ein Versäumnis.
ZEIT: Und Schreiben?
Handke: Ich bin kein fanatischer Schreiber. Nur wenn ich dann im Tun
bin, wird es ausschließlich. Vorher drücke ich mich, solange ich kann.
Indem Sie jetzt hier sind, berauben Sie mich der Wälder. Sonst wäre
ich längst unterwegs. Morgen werde ich schreiben: »Tag ohne Wälder,
nur gequasselt.«
ZEIT: Schade, dass es so früh dunkel wird, sonst hätten wir den Gang
durch die Wälder gemeinsam noch machen können.
Handke: Ich gehe nicht mehr mit anderen, außer mit meiner Tochter. Der
will ich die Wälder nicht gerade zeigen, aber doch anmuten lassen. Ich
mag nicht sagen: Schau mal das oder das, ich gehe mit ihr langsam, in
der Hoffnung, dass sie etwas wahrnimmt, und manchmal sieht sie sogar
besser als ich. Natürlich möchte ich ihr die Stellen, wo man
Steinpilze findet, zeigen, so wie früher die Großväter die Enkel in
die Wälder mitgenommen haben, damit sie, wenn die Großväter einmal
nicht mehr da sind, die Stellen kennen. Ich hatte einmal vor, einen
Plan der Wälder zu machen, wo die Kostbarkeiten aufzuspüren sind, so
wie der Plan der Schatzinsel von Stevenson. Diese Insel habe ich als
Kind total wörtlich genommen, ich dachte, das stimmt alles.
ZEIT: Manche glauben, dass es die Insel gegeben hat.
Handke: In der Hauptsache ist sie wohl erfunden. Es gibt nichts
Schöneres, als, wie Hesse gesagt hat, das Wagnis der Fiktion
einzugehen. Wenn das Schiff der Fiktion parallel zur Realität fährt
das ist für mich ein universelles Erlebnis.
ZEIT: Dann erzählen Sie eine Geschichte.
Handke: Ich erfinde nicht nur Geschichten, auch Wörter. Und natürlich
spielen Träume eine Rolle. Die Träume sind ja verschwunden aus der
Literatur, dabei sind sie ihr Ursprung. Bei den meisten
Schriftstellern sehe ich keinen Traum mehr. Ich komme aus dem Traum.
ZEIT: Wandern, lesen, schreiben machen Sie das vor allem für sich
selber, oder sehen Sie auch den Leser vor sich?
Handke: Als ich das aus der Luft herausgegriffen habe um ein anderes
Wort für notieren zu nehmen , habe ich keineswegs an irgendeinen
Leser gedacht. Vor einem Jahr ungefähr hatte ich gerade den Versuch
über das Gericht in Den Haag und den Besuch bei Milo∆evi hinter mir,
und ich verspürte das Bedürfnis, weiterzutun im Schreiben, und da habe
ich mir die 15 Jahre alten Notizbücher hergenommen. Nach zwei, drei
Seiten war ich begeistert nicht von mir, sondern von der Bewegung
der Reisestationen. Das hat mich lebendig gemacht, und zugleich habe
ich mir gesagt, das soll nicht dich lebendig machen, sondern andere,
und dann habe ich das Ganze kopiert, aber vieles weggelassen. Sonst
lese ich meine früheren Sachen nie, es sei denn, es kommt mal eine
fremdsprachige Ausgabe daher, dann schaut man hinein, und zu seiner
eigenen Schande bleibt man doch länger drin.
ZEIT: Warum Schande?
Handke: Ich bin dann immer gerührt von mir selbst.
ZEIT: Und das mögen Sie nicht.
Handke: Im Moment schon, aber dann geht's immer weiter, und ich bin
immer gerührter, es kommen mir die Tränen, über die Welt, über mein
Tun, was ich gemacht hab.
ZEIT: Es ist jetzt genau 40 Jahre her, dass Ihr erstes Buch erschienen
ist, Die Hornissen. Sie sind dann sehr schnell ein Star der
Literaturszene geworden.
Handke: Aber nicht durch die Hornissen. Durch Princeton, wo ich
blöderweise das Maul aufgerissen habe, und durch die
Publikumsbeschimpfung.
ZEIT: Sie haben damals einen Brief an Ihre Mutter geschrieben. »Mach
Dir keine Sorgen um mich, ich werde sicher weltberühmt.« Haben Sie das
geglaubt?
Handke: Ich habe nie gedacht, dass ich je eine Chance hätte, nie. Ich
habe mich mit den Hornissen einfach retten wollen. Im Studium habe ich
die schwarze Wolke des Nichts vor mir gesehen. Ich habe immer Kafka
bewundert, der es geschafft hat, sein Studium zu vollenden und in den
Beruf zu gehen. Ich konnte das nicht. Dabei war ich ein guter
Jurastudent, ich habe sehr viel auf eigene Faust gelernt, aber ich
habe keine Antwort bekommen von den Professoren. Man braucht ja
irgendwie eine Erotik. Dann habe ich die Hornissen geschrieben. Man
muss sich vorstellen, was das damals bedeutete, aus dem Winkel, aus
dem ich kam, ein Buch bei Suhrkamp zu machen.
ZEIT: Jedenfalls sind Sie sehr rasch erfolgreich geworden. Sie konnten
sich eine Wohnung leisten, Reisen unternehmen.
Handke: Ja, zum Glück. Der größte Erfolg war ganz einfach der, dass
ich schreiben konnte und publiziert wurde. Sich die Zeit zu nehmen,
sie fruchten zu lassen, das ist schon ein Erfolg. Und dann die Sache
zu Ende zu bringen. Die Hornissen zu schreiben war ja nicht leicht,
denn damals gab es eine große Krise. Man fragte zu Recht: Was ist
Schreiben, wie schreibt man, warum schreibt man, ist Schreiben noch
erlaubt? Heute fragt man das nicht mehr. Ich empfinde diese Schwelle
immer noch, den Gedanken, dass das Schreiben eigentlich nicht sein
darf. Heute ist eine ungeheure Geläufigkeit da, einerseits erfreulich,
andererseits fragwürdig. Diese Schwelle überwunden zu haben, das war
Erfolg. Das erste Buch, das einen Auflagenerfolg hatte, war die Angst
des Tormanns beim Elfmeter, vier Jahre später. Aber was ist Erfolg
beim In-die-Welt-Gehen der Bücher? Ich habe selten wirklich gespürt,
dass die Bücher gelesen wurden. Vielleicht der Kurze Brief und
Wunschloses Unglück doch, ja, man spürt es an den Briefen von
Lesern. Ich habe den Eindruck, es werden immer weniger Briefe geschrieben.
ZEIT: Heute schreibt man meist E-Mails.
Handke: Damit habe ich nichts zu tun. Aber es gibt immer noch
herrliche Briefe von Lesern, und wenn ich ein oder zwei im Monat
erhalte Nicht, dass ich davon lebe, aber die kann ich manchmal gar
nicht beantworten, so schön sind sie.
ZEIT: Leiden Sie unter dem Älterwerden?
Handke: Nein. Ich habe zwar nicht gerade heiter die Räume
durchschritten, wie Goethe das gerne von sich gehabt hätte, aber ich
habe die Räume durchstöbert. In meinen Büchern kann man das vergehende
und das sich entwerfende Leben ziemlich genau ahnen. Man kann sehen,
was ein Schriftsteller ist, was Schreiben ist, was Leben im Schreiben
ist. Sonst hätte das alles ja keinen Sinn. Ich bin nie ein Profi
geworden. Ich bin ein Handwerker nur in dem, was ich nicht tue, nur im
Vermeiden.
ZEIT: Lesen Sie gegenwärtige Autoren?
Handke: Ich lese gerne und bin neugierig. Ich bin zutraulich wie ein
Tier, das zum Futtertrog geht, ich freue mich, wenn ich Joseph Zoderer
lese oder Ralf Rothmann oder Walter Kappacher oder Florian Lipus. Das
sind wertvolle Sachen. Wertvoll ist ein dummer Ausdruck, ich weiß,
aber immer noch besser als das, was ihr Kritiker immer sagt,
»wunderbar« oder »großartig«. Solche Wörter müsste man euch verbieten.
ZEIT: Sie haben gesagt, eine Möglichkeit bestehe für Sie immer nur
einmal. Schreiben Sie mit jedem Buch etwas Neues?
Handke: Ein neuen Ansatz vielleicht. Man kann die Comédie humaine
nicht noch mal schreiben. Balzac hat den neuen Menschen des 19.
Jahrhunderts beschrieben, mit der Kraft eines Titanen, voller Sanftmut
und Unbarmherzigkeit. Dieses horizontale Gemälde geht nicht mehr,
heute muss man vertikal schreiben. Aber es wird dadurch vermutlich
enger, vielleicht auch tiefer. Auch ich habe, so kommt es mir vor,
eine Art Comédie humaine dahergestümpert, aber sie ist subjektiv.
Balzac wollte ja objektiv sein. Auch Flaubert, was nicht immer von
Vorteil war. Er hat sich in seinen späteren Büchern verirrt. Wer hat
sich nicht verirrt? Vielleicht Goethe nicht. Es hätte ihm nicht geschadet.
ZEIT: Sie haben sich lange nicht mehr mit ihm beschäftigt.
Handke: Ja, er muss bald wieder drankommen.
ZEIT: Mögen Sie ihn?
Handke: Nach ein paar Sätzen von ihm, ähnlich wie bei Hölderlin,
kriegt man Lichtadern eingezogen. Man spürt, wie sich's gehört. Aber
mögen? Ich kenne ihn nicht. Ich würde ihn gerne kennen lernen,
spiritistisch vielleicht.
ZEIT: Auch er hat gerne Wein getrunken. Ich glaube, keinen besonders
guten.
Handke: Wer weiß. Oft ist der alltägliche Wein der beste. Ich mag
Schriftsteller nicht bewundern. Aber ab und zu bin ich voller
Verehrung für Geschriebenes, voller Freude und auch Sportsgeist. Es
gibt so viele gute Bücher, die kein Mensch mehr liest.
ZEIT: Die meisten Romane heute sind irgendwie realistisch. Das sind
Ihre Bücher eigentlich nie.
Handke: Ich kann nicht nacherzählen, ich kann nur vorerzählen. Bei der
langen Geschichte vom Bildverlust wollte ich möglichst genau die
Geschichte der Sierra de Gredos erzählen. Je näher ich ihr kam, desto
klarer wurde mir: Ich muss alles erfinden.
ZEIT: Warum müssen Sie erfinden?
Handke: Das Erfinden gibt mir ein Triumphgefühl. Wenn ich spüre, es
gibt eine Gegenwelt, die nicht unbedingt der tagtäglichen Welt
widerspricht, aber sie beleuchtet, dann habe ich ein Gefühl von
ZEIT: Macht?
Handke: nicht Macht, sondern von Etwas-gemacht-Haben. Und letzten
Endes das Gefühl, jetzt habe ich das Recht zu leben, zu schreiben. Nur
durch die Erfindung habe ich dieses Recht. Bei Gestern unterwegs habe
ich dieses Gefühl nicht, es ist, als ob es gar nicht von mir wäre, es
mir zugeflogen, durch mich durchgeflogen und wieder aus mir
herausgeflogen wäre.
ZEIT: Der Realismus ist auch eine Erfindung.
Handke: Ja, schon, aber ich bin kein Realist. Cervantes ist auch kein
Realist. Die mittelalterlichen Epen sind auch nicht realistisch. Sie
sind märchenhaft, aber märchenhaft in einem schneidenden Sinn. In der
Abwesenheit habe ich den Parzival fast kopiert. Als ich ihn damals
las, dachte ich, das ist die Form, so lässt die Welt sich erzählen,
so, wie ich sie sehe, fühle und vor allem träume. Denken kann man die
Welt eh nicht. Die Abwesenheit ist im Grunde die gekürzte Fassung von
Wolframs Parzival.
ZEIT: Das habe ich, offen gestanden, nicht gemerkt.
Handke: Soll man ja auch nicht. Bei euch in der ZEIT stand neulich ein
Interview mit dem Sekretär der Schwedischen Akademie. Der Herr sagte,
die Literatur habe sich geändert, Fiktion sei zweitrangig geworden.
Ohne Fiktion aber kann man die Literatur abschaffen. Es sind
ehrenwerte Schreiber, die er genannt hat, wie etwa Kapuczynski, der
aufschlussreiche Reportagen schreibt, aber das kann man doch nicht
Literatur nennen. Man darf nicht alles vermischen, das ist skandalös.
Man muss nur eine Seite von einem Buch lesen, und man sieht: Das ist
Sprache oder eben nicht. Sprache, nicht Stil, das ist ein Unterschied.
Sie lesen eine Seite und wissen: endlich Sprache, endlich Zittern,
aber auch die Sprachlosigkeit in der Sprache. Beides.
ZEIT: Kann man das lernen?
Handke: Es ist kein Handwerk. Das kommt später dazu. Aber der Anfang
ist nie mit Handwerk zu schaffen. Ich verstehe nicht, wie man das
Schreiben in Schreibschulen lernen will.
ZEIT: Korrigieren Sie viel?
Handke: Sehr viel. Ich schreibe seit fünfzehn Jahren mit Bleistift
außer die Theaterstücke, die ich mit der Maschine tippe. Wenn
gesprochen wird, dann muss irgendetwas knallen. Die Prosa schreibe ich
mit Bleistift, und da radiere ich viel. Die Gefahr, mit Bleistift zu
schreiben, besteht darin, dass man in der Stille des Schreibens
vergisst abzusetzen, also Absätze zu machen. Sie hinterher einzufügen
ist nicht gut. Dafür ist die Maschine oder der Computer besser. Aber
die Chance ist eben, dass es eine ganz andere epische Bewegung gibt.
Es spielt auch eine Rolle, dass ich die beiden letzten dicken Bücher,
Die Niemandsbucht und den Bildverlust, oftmals im Freien geschrieben
habe. Im Freien haben sich mir immer wieder neue Räume gezeigt, die
ich nur antupfen musste. Ich habe das als ungeheuer erfreulich
empfunden. Dass es ausschwingen kann in die Räume, die sich im Freien
auftun.
ZEIT: Was war denn die Grundfigur beim Bildverlust? Ich habe das nicht
verstanden.
Handke: Sie haben einen großen Blödsinn darüber geschrieben, so
achtlos, fahrlässig. Bevor Sie kamen heute, habe ich gedacht: Es ist
eigentlich eine Schande, dass dieser Mensch mein Haus betritt. Ich
habe ja immer von Bildern gelebt, von Traumbildern, von Anschauung,
und mit der Zeit bekam ich das Gefühl, dass die Bilder ihre
Gültigkeit, ihre Realität verlieren. Dem wollte ich nachspüren. Ich
erinnerte mich an junge Leute voller Enthusiasmus, voller Unschuld,
denen ich zwanzig Jahre später wieder begegnet bin, und ich sah, dass
diese Begeisterung verschwunden war.
ZEIT: Weil sie älter geworden waren.
Handke: Ja, ich habe mich für Momente wiedererkannt. Es hat mich zu
der Frage gebracht: Wo ist eigentlich die Begeisterung unserer Jugend
geblieben, als wir geschrien haben vor Freude: Wir sind doch alle
aufgebrochen, irgendwohin. Und da habe ich die Geschichte dieser Frau
geschrieben, die die Leute wiederfindet, mit denen sie zusammen war
und deren Begeisterung verschwunden ist, aber vielleicht wieder
geweckt werden kann.
ZEIT: Woher kommen die Kriegsbilder?
Handke: Das hat auch etwas mit Jugoslawien zu tun. Ich hatte die
Vorstellung, dass sich die letzten Menschen da oben im Hochgebirge
sammeln und eine Art Kolonie bilden.
ZEIT: Die Menschen fangen noch einmal von vorn an?
Handke: Ja, die Menschen dort wollen keine Bilder mehr haben, die
Geschichte der Menschheit wird hier wirklich Geschichte. Es geht um
den Konflikt zwischen Bilderglauben und Bildersturm. Ich spüre
manchmal, dass ein neuer Bildersturm an der Zeit wäre. Es geht nicht
so weiter, es ist eine Beleidigung, eine Entseelung, eine
Entleiblichung, was die Bilder mit uns machen. Die Menschen meines
Buchs sind auf der Suche: Wie kann man sich vor den Bildern retten?
ZEIT: Ich als Leser bin verwirrt, weil es in Ihrem Roman keine
Orientierung gibt. Jeder Ort ist zugleich ein anderer.
Handke: Sie sollten nicht sagen: Ich als Leser. Sondern: Der Leser als
Ich. Ja, das glaube ich Ihnen. Wenn Sie Faulkner lesen oder Cervantes,
das ist ab und zu steinig, mühsam. Aber sobald man Vertrauen fasst,
geht man durch die Bewegung hindurch. Das ist Literatur, das ist
Lesen, nicht etwas, was so glatt daherkommt. Ich bemühe mich um
Klarheit, ich möchte nicht dunkel sein. Als ich noch ein junger
Schriftsteller war, stand in irgendeiner Rezension »Der dunkle
Handke«, es hat mir geschmeichelt. Aber das ist lange vorbei. Ich will
Licht sein. Aber ich möchte forschen im Schreiben. Ich will nicht
amerikanisch aufbereitet schreiben. Die deutsche Sprache hat ihr
eigenes Recht, aber auch ihre Schlingen. Wenn man sich ihren
Assoziationen, ihren Klängen völlig hingibt, kann man sich leicht
verlieren. Nicht wenigen Schriftstellern ist das ja passiert.
Andererseits sind wir eben deutschsprachige Schriftsteller, und das
muss man auch merken. Wir können nicht schreiben wie die Amerikaner,
wie die Franzosen. Hätte Eichendorff schreiben sollen wie Flaubert
oder Stendhal?
ZEIT: Eichendorff kann man sich eigentlich in einer anderen Literatur
gar nicht vorstellen.
Handke: Ja, der ist herrlich, die deutsche Literatur hat ihre eigenen
Geschichten, ihren eigenen Fortgang. Das muss man bewahren. Das müssen
Kretins wie ich praktizieren. Und das ist spannend, ist herrlich.
Prosaschreiben ist meine Heimat. Einmal habe ich zwei Jahre lang fast
nur übersetzt. Mit einer bitteren Sehnsucht bin ich zwei Jahre lang um
meinen Schreibtisch herumgeschlichen und dachte, du musst endlich
wieder Prosa schreiben. Aber für mich ist es wichtig, monate- oder
auch mal zwei Jahre lang ohne Schreiben auszukommen, damit Lust und
Bedürfnis sich wieder vereinen.
ZEIT: Ist es nicht so, dass nach langer Pause die Fertigkeit verloren
gehen kann?
Handke: Das nicht, aber eine Geschichte, eine Idee, die man hatte,
kann in dieser Zeit vermodern. Dann kann es passieren, dass man den
Pfingsttag versäumt, um den Anfang zu machen.
ZEIT: Sie haben viele Autoren entdeckt oder wiederentdeckt, Emmanuel
Bove oder Hermann Lenz zum Beispiel.
Handke: Ja, das hatte eine große Wirkung, aber wenn ich heute einen
solchen Autor in der SZ oder der ZEIT vorstellen würde, hätte das fast
keine Wirkung mehr.
ZEIT: Warum?
Handke: Die Aufmerksamkeit ist erschöpft. Die Hinweise auf vergessene
Autoren, die Wiederentdeckungen sind Mode, und der Nutzen wird immer
geringer. Auch habe ich nicht mehr die Stimme wie früher.
ZEIT: Vielleicht liegt das an Ihrer Verteidigung der Serben im
jugoslawischen Krieg.
Handke: Vorsicht, Sie sind hier in meinem Haus.
ZEIT: Ich habe zwar gerade das Messer hier genommen, aber wirklich
nur, um mir ein Stück Käse abzuschneiden.
Handke: Sie werden mich nicht in eine Verteidigung bringen. Ich habe
da nichts zu erklären.
ZEIT: Es gibt viele Buchhandlungen in Österreich, die Ihre Bücher
nicht mehr führen.
Handke: Nicht nur in Österreich, auch in der Schweiz und Deutschland.
Daran seid auch ihr Kritiker schuld. Auf der einen Seite macht ihr im
Feuilleton, wenn ich jetzt mal im Plural reden darf, einen Text wie
den über meinen Besuch bei Milo∆evi oder über meine Reise zu den
Flüchtlingen in Serbien nieder, noch bevor ihr ihn gelesen habt, ihr
blockt ab; und auf der anderen Seite, wenn Gestern unterwegs
erscheint, seid ihr ganz offen und zeigt euch als feine, aufmerksame,
sprachbewusste Leser. Vorher aber habt ihr den Weg zu den Lesern
abgeschnitten, also zu den Buchhandlungen. Die Buchhändler werden
zunehmend moralistisch und gebärden sich als Richter. Eine Bekannte
erzählte mir, sie habe in vier Buchhandlungen gehen müssen, bis sie
endlich Gestern unterwegs erhielt. Ein Buchhändler sagte mir voller
Stolz, er habe alle meine Bücher, als die Winterliche Reise erschien,
aus seinem Laden entfernt.
ZEIT: Das ist idiotisch, das muss ich zugeben, obwohl ich in der Sache
anderer Meinung bin.
Handke: Sie müssen gar nichts zugeben, es geht auch nicht um Meinung.
Meinung haben hat nichts mit Schreiben zu tun. Hat jemals jemand in
einer westlichen Zeitung von den Flüchtlingen, mehr als einer halben
Million, in Serbien erzählt? Nie habe ich etwas darüber gelesen, wie
die vegetieren. Und zum ersten Mal habe ich deren Geschichte erzählt.
Warum geht nicht einer der Reporter der ZEIT, die die Geschichte vom
serbischen Adolf zum siebzigsten Mal als Dossier aufmöbeln, wo doch
die bosnischen Muselmanen und die Kroaten genauso viel Blut am Stecken
haben, zu den serbischen Flüchtlingen? Die kommen aus dem Kosovo, aus
Kroatien, aus Bosnien und werden von den eigenen Landsleuten in
Serbien verachtet. Ich habe darüber geschrieben, ohne irgendeine
Ideologie damit zu verbinden, und ich werde dafür niedergemacht. Zum
ersten Mal kommt einer wie ich nach Srebrenica und erzählt von einer
Mutter, nicht von den Müttern. Ja, es ist ein unverzeihlicher
Racheakt, was die serbische Armee da veranstaltet hat. Aber es ist
eine Rache gewesen an den zerstörten Dörfern rund um Srebrenica. Für
mich habt ihr Deutschen eine große Schuld auf euch geladen, schon mit
der Anerkennung Kroatiens. Euer Herausgeber Joffe hat gesagt, dass das
Wort Auschwitz als Schlagwort verwendet wurde. Aber wer hat damit
angefangen? Es war euer Außenminister Fischer. Scharping hat von KZs
in Prishtina geredet, was ein Unsinn ist. Die Knüppelwörter stammen
von euren Offiziellen. Und die haben den Knüppel benützt, indem sie
den Bombenkrieg mitverantwortet haben.
ZEIT: Es gibt viele Kriege auf der Welt, warum regen Sie sich gerade
über den in Jugoslawien auf?
Handke: Jeder hat sein Land. Der Schriftsteller Péter Esterházy, der
für den Bombenkrieg war, hat gesagt: Ach, dem Peter Handke hat man
sein Spielzeug weggenommen, deswegen ist er so beleidigt. Und der
Esterházy kriegt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Verkehrte Welt. Serbien wurde nie erzählt, und ich habe nur erzählt,
was ich in Serbien gesehen habe.
ZEIT: Mussten Sie den Büchnerpreis zurückgeben?
Handke: Der Büchnerpreis hat ja nichts mit Büchner zu tun, das ist ein
repräsentativer Preis der Bundesrepublik Deutschland.
ZEIT: Was haben Sie gegen die Deutschen?
Handke: Mein Vater war ein Deutscher, er stammte aus einer
Bäckerfamilie im Harz. Ich habe keinen Hass auf Deutschland. Es gibt
viele Deutschlands, das krachlederne Großdeutschland und das
Deutschland der Provinzen, das Deutschland »nebendraußen«, um es mit
einem Wort von Hermann Lenz zu sagen. Das ist mein Deutschland und
wird es bleiben.
ZEIT: Warum sind Sie aus der Kirche ausgetreten?
Handke: Was mich auf die Palme oder vielmehr auf die Serbische Fichte
gebracht hat, war ein Sendschreiben des Bischofs von Amiens. Er hat
den Bombenkrieg gegen Jugoslawien gerechtfertigt mit dem Satz: Wenn
ein Waldbrand herrsche, genüge es nicht, mit dem Eimer zu kommen, man
benötige Löschflugzeuge. Ich scheue mich, mich einen Christen zu
nennen. Aber ich fühle mich in der Nachfolge Christi, ohne dass ich
sein Nachfolger wäre. Er ist für mich die größte Gestalt in der
Geschichte. Der war kein Nazarener, der hatte auch seinen Zorn.
ZEIT: In Gestern unterwegs stößt man immer wieder auf Zitate aus dem
Neuen Testament.
Handke: In der ersten Fassung standen da Seiten um Seiten auf
Griechisch. Ich habe nur weniges übernommen, vor allem, um Lust zu
machen, Griechisch zu lernen. Es ist fast dunkel geworden, soll ich
ein Licht machen?
ZEIT: Nein, so kann ich besser den Garten sehen, die schöne Zeder.
Handke: Es sind zwei, die eine ist eine Libanon-Zeder, die andere eine
Atlantik-Zeder. Links Libanon, rechts Atlantik. Machen wir jetzt
Schluss, ich hole noch einen Wein.
Das Gespräch führte Ulrich Greiner
© DIE ZEIT 01.02.2006 Nr.6
AUS DEM ARCHIV
ZEIT 24/1999: Ein lieber Gast
Peter Handke findet in Serbien andersgelbe Nudelnester und redet
seinen Freunden nach dem Mund ...
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ZEIT 16/1999: Kriegsschauplatz Handke
Der Schriftsteller Michael Scharang fürchtet, daß die poltitischen
Attacken auf Handke dessen Werk beschädigen sollen ...
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