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28.12.2007 / Ausland / Seite 7
Ein Pulverfaß

Bilanzen 2007. Heute: Balkan. Nächster Krieg in Sichtweite. Kosovo
vor Unabhängigkeitserklärung. Gefahr einer Kettenreaktion

Von Jürgen Elsässer

Eines Tages wird der große europäische Krieg wegen irgendeiner
Dummheit auf dem Balkan ausbrechen«, soll der deutsche Kanzler Otto
von Bismarck kurz vor seinem Tod gesagt haben. Die Prophezeiung trat
ein, auf die Schüsse in Sarajevo Ende Juni 1914 folgte ein
vierjähriges Schlachten, das die Welt zerstörte. Die südöstliche Ecke
unseres Kontinents ist seit Beginn der neunziger Jahre, nachdem die
Bipolarität sie vier Jahrzehnte vor den geopolitischen Stürmen
geschützt hatte, wieder für eine ähnliche Eskalation prädestiniert:
Erneut prallen im Gebiet zwischen Adria und Schwarzem Meer die
Interessen der westlichen Führungsmächte auf die Sphäre Rußlands und
die Vorposten der islamischen Welt. Nach der Zerschlagung des großen
Jugoslawiens, das die Minderheiten- und Grenzkonflikte überformte,
sind die alten Streitigkeiten wieder aufgeflammt.

Warnung vor Krieg

»Der nächste Krieg auf dem Balkan droht«, schrieb der Corriere della
Sera am 21. November, als das Scheitern der Verhandlungen um das
Kosovo bereits absehbar war. Auch General Klaus Reinhardt, der erste
Kommandeur der NATO-geführten Kosovo-Truppe KFOR, sah wenige Tage
später in einem Deutschlandfunk-Interview die »Gefahr einer ganzen
Kettenreaktion«: »Ich gehe mal davon aus, daß wenn die Kosovo-Albaner
die Unabhängigkeit erklären, sich die Serben im Norden in Mitrovica
und nördlich des Iber-Flusses ihrerseits unabhängig von diesem neuen
unabhängigen Kosovo erklären. Das kann die Konsequenz haben, daß die
Albaner in Südserbien, im Presevo-Tal, in Bujanova, wo sie ja schon
seit Jahren immer wieder den Anschluß versuchen, sagen, wenn jetzt im
Norden die Serben unabhängig sich vom Kosovo erklären, wollen wir aus
dem serbischen Staatenverbund raus. (...) dann ist der Druck aus
Belgrad nicht zu übersehen, die sagen, wenn Kosovo unabhängig wird,
dann wollen wir gucken, ob wir nicht auch die Republika Srpska aus
dem Staatenverbund Bosnien-Herzegowina rausbrechen und an Serbien
anschließen können. Das heißt, es kann im Worst Case sich eine
Kettenreaktion auf diesen ganzen Bereich ausdehnen, der mir riesige
Sorge macht.« Wenn ein deutscher Kommißkopp, der nach der
Stationierung seiner Truppen auf dem Amselfeld an seiner
Parteilichkeit zugunsten der Albaner keinen Zweifel gelassen hat, vor
deren Ambitionen auf einen eigenen Staat in derart dramatischen
Worten warnt, muß wirklich Gefahr im Verzug sein.

Kundige Beobachter hätten spätestens am 10. Februar 2007 merken
müssen, daß auf dem Amselfeld eine Bombe tickt, die die Tektonik des
Kontinents erschüttern kann. Bei seinem Auftritt auf der Münchner
Sicherheitskonferenz formulierte der russische Präsident Wladimir
Putin nämlich eine Kampfansage an die USA und ihre Verbündeten.
Weitere Verletzungen des Völkerrechts werde sich der slawische
Großstaat nicht bieten lassen. Während Putin auf der Konferenz selbst
den drohenden Aufbau eines neuen US-Raketensystems in Polen und
Tschechien und das Unterlaufen des KSE-Rüstungskontrollvertrages
geißelte, machte er im folgenden deutlich, daß auch das Kosovo zu den
Streitpunkten gehört, bei denen er kein Jota nachgeben werde.
Tatsächlich wäre die Herauslösung des Kosovo aus Serbien ohne dessen
Zustimmung oder ohne wenigstens einen Beschluß des UN-
Sicherheitsrates ein Gewaltakt ohnegleichen, selbst wenn dabei – was
noch nicht ausgemacht ist – kein Schuß fallen sollte: Die NATO-Mächte
würden das Völkerrecht brechen und nach eigenem Gusto entscheiden,
ein UN-Mitglied – in diesem Fall Serbien – zu zerstückeln und einen
neuen Staat zu bilden.

Als der Kosovo-Beauftragte Martti Ahtisaari jedenfalls am 21. Februar
den nach ihm benannten Plan für die Zukunft der serbischen Provinz
öffentlich machte, schlugen die Wogen der Empörung in Belgrad und
Moskau noch höher. Wieder einmal, wie im Februar 1999 im Vertrag von
Rambouillet, standen die größten Provokationen im schwer zugänglichen
Kleingedruckten: Während der Haupttext von Ahtisaaris Dokument von
einer »kontrollierten« oder »überwachten« Unabhängigkeit der
umstrittenen Region sprach, machte der Annex Nummer 11 klar, daß in
der nur pro forma selbständigen Republik Kosova der Militärgouverneur
der NATO das letzte Wort in allen Fragen haben sollte. Der serbische
Erziehungsminister Zoran Loncar kritisierte scharf: »Die Frage der
albanischen Minderheit diente der NATO nur als Rauchvorhang, um ihren
ersten militärischen Marionettenstaat zu schaffen (...) Die NATO hat
Serbien zuerst bombardiert, dann ihre Truppen in die Provinz Kosovo
gebracht und will jetzt (...) ihren ersten Militärststaat auf
serbischem Territorium errichten.«

Wie Eisenspäne in einem Magnetfeld richten sich die politischen
Akteure auf dem Balkan im Jahr 2007 nach dem Kosovo aus: In Bosnien-
Herzegowina verfügte der internationale Gouverneur Miroslav Lajzic im
Oktober eine Aufhebung der Vetorechte für den serbischen Landesteil
in den gemeinsamen Staatsinstitutionen; so soll verhindert werden,
daß die Republika Srpska dem Beispiel der Kosovo-Albaner folgt und
sich selbständig macht. In Mazedonien starben Anfang November in
einem stundenlangen Feuergefecht acht Kämpfer der
wiederauferstandenen Terrororganisation UCK. Noch dramatischer war
der Versuch von Anhängern UCK-naher Parteien im September, das
Parlament in Skopje zu stürmen; dort sollte ein neues
Minderheitengesetz verabschiedet werden, das die Rechte der größten
Minorität, der albanischen nämlich, zugunsten von Roma und anderen
beschneidet, um eine Sezession des mehrheitlich albanischen
Westmazedonien (und einen späteren Zusammenschluß mit dem Kosovo) zu
verhindern. Mit Montenegro schloß die NATO Ende November ein
Abkommen, das dem Pakt den Durchzug seiner Truppen durch die
ehemalige jugoslawische Teilrepublik gestattet – zum Beispiel ins
Kosovo.

Schweigende Mehrheit

Das vielleicht bemerkenswerteste Ereignis des gesamten Jahres waren
die Wahlen im Kosovo Mitte November. Weniger als die Hälfte, nur etwa
43 Prozent der Stimmberechtigten, gingen an die Urnen – das ist der
niedrigste Wert, seit die serbische Provinz im Sommer 1999 unter UN-
Verwaltung kam. Deutlicher könnte die schweigende Mehrheit nicht
demonstrieren, daß ihr die angekündigte Proklamation des eigenen
Staates ziemlich egal ist. Nicht die Menschen machen Druck für einen
neuen Staat – nur die lokale Mafia und die Strategen der NATO-Mächte.

Am 20. Januar wird es Parlamentswahlen in Serbien geben. Tomislav
Nikolic, der Kandidat der NATO-kritischen Radikalen Partei, wirbt für
die Errichtungt eines russischen Stützpunkts in Serbien. Das hat
Sinn: Alleingelassen, wie vom russischen Präsidenten Boris Jelzin in
den neunziger Jahren, ist Serbien zu schwach, um seine Interessen zu
verteidigen. Umgekehrt entstünde mit einer Moskauer
Sicherheitsgarantie, wie vor 1914, eine Bündnisautomatik, die Serbien
schützen kann – aber nur dadurch, daß ein großer Krieg riskiert wird.
Vor dieser Zwickmühle graute Bismarck, und zeitlebens versuchte er
sich deswegen zumindest auf dem Balkan als »ehrlicher Makler«. Tempi
passati ...

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http://www.jungewelt.de/2007/12-19/047.php

19.12.2007 / Schwerpunkt / Seite 3
Marionettenstaat Kosovo

Debatte im Weltsicherheitsrat über Zukunft der serbischen Provinz.
Belgrader Premier Kostunica: »Gefährlichster Präzedenzfall seit dem
Zweiten Weltkrieg«

Von Jürgen Elsässer

Am heutigen Mittwoch wird vor dem Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen ein Schlagabtausch zwischen Rußland, Serbien und den NATO-
Mächten erwartet. Auf der Tagesordnung steht die Zukunft des Kosovo.
Verhandlungen einer Vermittlertroika im Auftrag der UNO über die
Zukunft der Provinz der Republik Serbien waren am 10.Dezember für
endgültig gescheitert erklärt worden. Der designierte
Ministerpräsident des Kosovo, der frühere Terroristenführer Hashim
Thaci, hatte daraufhin das Bekenntnis erneuert, im nächsten Frühjahr
die Unabhängigkeit zu proklamieren. Als Zeitpunkt hatte er den März
ins Spiel gebracht; internationale Beobachter gehen aber davon aus,
daß der neue Staat bereits Ende Januar ausgerufen werden könnte.
Moskau lehnt diesen Schritt unabhängig vom Zeitpunkt ab, da damit
einem UN-Mitgliedsstaat – Serbien – etwa 15 Prozent seines
Territoriums entrissen würden. Sollte Rußland, wie bisher, im
Weltsicherheitsrat mit Veto drohen, entstände der neue Staat ohne
Zustimmung der UNO – also völkerrechtswidrig.

EU bricht Völkerrecht

Die Vertreter der NATO-Mächte werden in der heutigen Debatte ihre
Rechtsposition darstellen. Demnach wäre eine Unabhängigkeitserklärung
des Kosovo mit der Sicherheitsratsresolution 1244 vereinbar. Mit
diesem Beschluß des höchsten UN-Gremiums endete 1999 der Krieg
zwischen der NATO und Jugoslawien, er bildet seither die juristische
Grundlage für die Arbeit der UN-Übergangsverwaltung UNMIK und die
Stationierung der NATO-geführten Besatzungsstreitmacht KFOR. Die
Entschließung 1244 betont die »territoriale Integrität« Jugoslawiens
und schützt damit dessen Rechtsnachfolger Serbien bis heute vor
Zerstückelung, etwa durch die Abspaltung des Kosovo. Doch die NATO-
Führungsmächte sind der merkwürdigen Auffassung, daß der Bezug auf
die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes in dem Dokument kein Gewicht
habe, obwohl er gleich an drei Stellen hergestellt wird.

Wie fadenscheinig die Argumentation der NATO-Mächte ist, bewies der
Beschluß der EU-Außenminister vom vergangenen Freitag. Vereinbart
wurde die Entsendung von EU-Polizeikräften in einer Sollstärke von
bis zu 1800 Mann in die serbische Provinz. Im Unterschied zur Arbeit
von UNMIK und KFOR, die in der Resolution 1244 immerhin umrissen und
durch spätere Festlegungen des Sicherheitsrates präzisiert wurden,
tauchen EU-Polizeikräfte in keinem völkerrechtlichen Dokument auf.
Ohne die Existenz eines solchen oder die Einladung durch die
serbische Regierung ist die Entsendung der EU-Polizisten ins Kosovo
ein Akt kolonialistischer Einmischung.

Serbien bleibt standhaft

Serbiens Ministerpräsident Vojislav Kostunica wird heute vor der UNO
wiederholen, was er bereits in den letzten Tagen ausgeführt hat: Die
geplante EU-Mission im Kosovo sei »ungesetzlich« und »unakzeptabel«.
Sie ziele darauf, in der Provinz einen »Marionettenstaat« der NATO zu
schaffen und sei »der gefährlichste Präzedenzfall seit dem Zweiten
Weltkrieg«. Selbst Außenminister Vuk Jeremic, ein Politiker der
prowestlichen Demokratischen Partei (DS), betonte nach dem EU-
Beschluß vom Freitag, ein Tausch von serbischem Territorium gegen den
EU-Beitritt des Landes sei in jeder Form unmöglich. Serbiens Kosovo-
Minister Slobodan Samardzic wurde deutlicher und drohte mit einem
Ende des EU-Assoziierungsprozesses. Man könne nicht Mitglied in einer
Organisation werden, die Serbien 15 Prozent des Territoriums stehle,
sagte der Minister von Kostunicas Demokratischer Partei Serbiens
(DSS). Laut Umfragen würden drei Viertel der serbischen Bevölkerung
lieber auf einen EU-Beitritt als auf das Kosovo verzichten.

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http://www.jungewelt.de/2007/12-12/049.php

12.12.2007 / Ansichten / Seite 8
Stunde der Radikalen

EU deckt Abspaltung Kosovos

Von Jürgen Elsässer

Die EU ist offenbar bereit, die völkerrechtswidrige Abspaltung des
Kosovo von Serbien zu unterstützen. Der EU-Gipfel am kommenden
Freitag wird die Weichen dafür stellen, ohne formell zu beschließen.
Zwar gibt es weiterhin heftigen Widerspruch: Anhaltende Skepsis wird
von den Regierungen in Athen, Madrid und Bukarest gemeldet. Der
slowakische Premier Robert Fico sagte am Montag, daß es für sein Land
»extrem schwierig« wäre, den neuen Staat anzuerkennen. Der
tschechische Präsident Vaclav Klaus betonte am selben Tag, daß er
»den vollen Konsens aller Beteiligten« bei dieser Entscheidung
»bevorzuge«. Doch diese Formulierungen sind windelweich.

Nur Zypern bleibt eisern beim Nein. Aber die tapferen Inselgriechen
werden gar nicht die Möglichkeit bekommen, ihr Veto einzulegen, weil
am Freitag vorsichtshalber nicht über die Sezession selbst
entschieden wird, sondern nur über ihre militärische Absicherung: EU-
Außenpolitik-Koordinator Javier Solana will sich genehmigen lassen,
eine 16000 Mann starke Polizeitruppe in der Provinz zu stationieren
und auch dort zu belassen, falls der neue Staat proklamiert wird.
Damit wird die Abspaltung präjudiziert. Das einzige, was NATO und EU
noch zurückschrecken lassen könnte, wäre die Entsendung russischer
Schutztruppen in den Nordkosovo. Aber selbst, wenn Putin das wollte,
er könnte es nicht: Rußland hat keine Landgrenze zu Serbien, und auf
dem Luftweg müßten russische Flugzeuge NATO-Territorium überfliegen –
da ist kein Durchkommen.

Also müssen sich die Serben selbst helfen. Das größte Hindernis dabei
sind ihr eigener Präsident, Boris Tadic, und seine Demokratische
Partei (DS). Tadic hat sich darauf festgelegt, den Internationalen
Gerichtshof gegen die Sezession anzurufen und überdies seine
Botschafter aus allen Staaten, die das Kosovo anerkennen, »zu
Konsultationen« zurückzurufen. Geht es noch harmloser? Mehr Schmackes
hat Premier Vojislav Kostunica, der über seinen Berater Aleksandar
Simic vergangene Woche erklären ließ, die Provinz »mit allen Mitteln«
zu verteidigen – und das schließe auch militärische ein. Kostunicas
Problem: In seiner Regierungskoalition ist die DS die stärkste Kraft.
Und: Über das Militär bestimmt nicht er, sondern der Präsident.

Also braucht Serbien schleunigst einen neuen. Tomislav Nikolic, der
Chef der Radikalen Partei, unterlag schon bei der letzten
Präsidentschaftswahl Tadic nur knapp. Jetzt, angesichts der
Aggressivität des Westens, hat er Aussicht zu gewinnen. Der Urnengang
soll am 20. Januar stattfinden. »Nach der Wiederwahl Tadics könnten
zuerst die großen EU-Länder und die USA den neuen Staat auf dem
Balkan anerkennen«, beschrieb die Süddeutsche am Dienstag das Kalkül
von NATO und EU. Was aber, wenn der Radikale siegt – und dann
Soldaten an die administrative Grenze zum Kosovo schickt? Si vis
pacem, para bellum. Frei übersetzt: Wenn du zur NATO gehst, vergiß
die Parabellum nicht.