[Nota: chi potesse tradurre questo testo in italiano e' pregato di
contattarci con sollecitudine. CNJ]

http://www.juergen-elsaesser.de/

Srebrenica und Karthago

Sommer 1995. Deutschlands meldet sich als kriegsführende Macht auf der
Bühne der Weltpolitik zurück.


Die Ärchaologen einer künftigen Zivilisation werden einmal im Schutt
unserer Städte wühlen, in den Katakomben unter der Reichshauptstadt, im
Kanzlerbunker, und sie werden über den Fragen brüten, die sich unsere
Historiker über Karthago stellten: Warum ist dieses Reich verschwunden?
Warum sind seine Bürger, als ihr Land noch bewohnbar nach dem zweiten
war, in den dritten Krieg marschiert?

Die eine Denkschule des post-karthagenischen Zeitalters wird auf den
Untergang der Bonner Republik im Zuge der Wiedervereinigen verweisen.
Ab diesem Zeitpunkt sei die genügsame Außenpolitik einem neuen
imperialen Machtanspruch gewichen, wie sich etwa an den
"Verteidigungspolitischen Richtlinien" aus dem Jahre 38 v.n.W. (vor dem
nuklearen Winter) ablesen lasse. Andere werden dagegenhalten, dass doch
zu diesem Zeitpunkt die republikanische Machtbalance noch intakt
gewesen sei - den Legionären auf der Hardthöhe habe immer noch ein
kräftiger sozial-ökologischer Widerpart Paroli geboten. Einer von
dessen Sprechern, ein gewisser Joseph (oder Joschka - die Quellen
differieren) Fischer sei sogar 32 v.n.W. deutscher Außenminister und
Vizekanzler geworden.

Ein sensationeller Fund halbgeschmolzener Computerfestplatten in der
atomar verseuchten Sperrzone rund um den Bendlerblock barg des Rätsels
Lösung: Parlamentsprotokolle, Zeitungsausschnitte, Fernsehmitschnitte
aus dem Jahr 35 v.n.W. - in der damaligen Zeitrechnung 1995 n.Chr.. In
diesem Jahr brach der Widerstand der moderaten Kräfte gegen den
Bellizismus zusammen, oder genauer gesagt: die vormaligen Opponenten
wechselten die Seite. Es war der letzte Sommer der alten Republik.

Eine Zeitreise

Bis zum Juni 1995 galt in der deutschen Politik das vom damaligen
Bundeskanzler Kohl verkündete Axiom: Niemals Bundeswehrsoldaten in
Gebieten einzusetzen, die einst die Wehrmacht okkupiert hatte.
Vorstößen aus der Union und aus dem konservativen Medienkartell, dieses
Axiom aufzuweichen und deutsche Soldaten zum dritten Mal in jenem
Jahrhundert gegen Serbien in Marsch zu schicken, standen ebenso starke
Widerstände der rot-grünen Opposition entgegen. So versuchte etwa die
SPD, der Beteiligung der Luftwaffe an den Nato-Überwachungsflügen in
Bosnien durch Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht einen Riegel
vorzuschieben, und die Bündnisgrünen unterstrichen ihr kategorisches
Nein zu allen Out-of-area-Einsätzen - auch Blauhelmmissionen! -
bisweilen sogar durch außerparlamentarischen Protest.

Der 30. Juni 1995 markiert das Ende des Kohl-Axioms, der Bundestag
gab grünes Licht für den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr. Zur
Unterstützung einer britisch-französischen Bosnien-Eingreiftruppe
wurden die Luftwaffe und Sanitätszüge bereitgestellt. Jörg Schönbohm,
Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, betonte, "daß es
diesmal nicht um eine humanitäre Operation wie in Somalia oder
Kambodscha" gehe. "Sondern jetzt werden deutsche Soldaten außerhalb des
NATO-Verteidigungsgebietes eingesetzt, mit der Möglichkeit, kämpfen zu
müssen."

Doch die Abwehrfront von SPD und Grünen stand, abgesehen von einigen
Abweichlern, noch immer. Fischer etwa bezeichnete den
Bundestagsentscheid als "historische Zäsur" und als "Debakel, für das
noch viele politisch und manche vielleicht auch mit ihrem Leben
bezahlen müssen". Bereits zuvor hatte er erläutert: "Ich bin der festen
Überzeugung, daß deutsche Soldaten dort, wo im Zweiten Weltkrieg die
Hitler-Soldateska gewütet hat, den Konflikt anheizen und nicht
deeskalieren würden (...) All diese Einsätze und die Debatten darum
werden von der Bundesregierung als Türöffner benutzt. Das vereinigte
Deutschland soll in seinen außenpolitischen Optionen voll
handlungsfähig gemacht werden." SPD-Bundesgeschäftsführer Günter
Verheugen kritisierte, daß "die Koalition uns in eine
Prä-Vietnam-Situation gebracht [hat], und wir rutschen immer tiefer in
die Grauzone ... und befinden uns irgendwann, ohne es recht bemerkt zu
haben, im Krieg".

Aber als zwei Monate später die Kohl-Regierung unter Berufung auf den
Bundestagsbeschluß vom 30. Juni grünes Licht zum Angriff gab, war von
der Opposition nichts mehr zu hören. Am 30. August begannen
Nato-Kampfflugzeuge einen vierzehntägigen Bombenkrieg gegen serbische
Stellungen in Bosnien. Tornados der Bundesluftwaffe bombten fleißig
mit. Dies, und nicht der Angriff auf Jugoslawien 1999, war der erste
Kriegseinsatz des westlichen Bündnisses und der Bundeswehr - aber kaum
jemand hat es gemerkt, denn die Öffentlichkeit war durch die Zustimmung
von SPD und Grünen eingelullt. Den Angriffen, bei denen auch Munition
aus abgereichertem Uran eingesetzt wurde, fielen mehrere hundert
Menschen zum Opfer.

Das Einknicken der parlamentarischen Kriegsgegner zwischen 30. Juni
und 30. August wurde durch ein einziges Ereignis ausgelöst: die
Eroberung der ostbosnischen UN-Schutzzone Srebrenica durch die Serben
am 11. Juli. "Seit Srebrenica habe ich meine Position verändert", sagte
Fischer im Rückblick. Auf dem grünen Parteitag im Dezember 1995
erhielten Anträge, die sich in unterschiedlicher Radikalität für
deutschen Interventionismus gegen die "marodierende Soldateska" (Ludger
Volmer) der Serben aussprachen, erstmals mehr Stimmen als die der
Interventionsgegner und Pazifisten.

Spurensuche

In den Tagen nach dem 11. Juli 1995 habe sich "Europas schlimmstes
Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg" ereignet, resümierte der
"Spiegel". Die bosnischen Serben hätten 7 000 Muslime ermordet - so die
bis heute in westlichen Medien gängige Standardzahl.

7 000 Ermordete? Das Internationale Rote Kreuzes IKRK) hat bis zum
Sommer 2001 insgesamt 7.475 aus Srebrenica Verschwundene registriert.
Wieviele von diesen Verschwundenen tot sind, ist nicht geklärt. Auch
für die wichtigsten westlichen Untersuchungsberichte wurden zu dieser
Frage leider keine eigenen Nachforschungen vorgenommen. Das trifft
sowohl auf die 1200 Seiten starke Studie einer Kommission des
französischen Parlaments (vorgelegt im November 2001) als auch auf den
3500 Seiten starken Report des niederländischen Armeeinstituts NIOD
(vorgelegt im April 2002) zu. Zum niederländischen Bericht stellt das
Wochenmagazin "Elsevier" kritisch fest: "Die Schuld der bosnischen
Serben wird nicht geringer, wenn keine siebentausend, sondern zwei-
oder dreitausend Muslime abgeschlachtet wurden. Aber eine
genauestmögliche Feststellung der Anzahl der Todesopfer ist von
Bedeutung, wenn es um die Wahrheitsfindung geht. Und genau hier wird
die Untersuchung ... den Anforderungen nicht gerecht."

Die Zahl "zwei- bis dreitausend" kann als wahrscheinlich gelten, da
sie von den Ergebnissen der Leichensuche gestützt wird. Das UN-Tribunal
in Den Haag, das die entsprechenden Grabungsarbeiten in und um
Srebrenica koordiniert, gab im August 2001 die Gesamtzahl der
gefundenen Leichen mit "mindestens 2.028" an. Diese seien aus 21
Massengräbern geborgen worden, 18 weitere seien noch nicht untersucht.

Strittig ist, wie viele dieser Toten "abgeschlachtet" wurden. Die
Richter in Den Haag stellten dazu im Verfahren gegen den
bosnisch-serbischen Armeegeneral Radislav Krstic fest: "Der Gerichtshof
kann die Möglichkeit nicht ausschließen, daß ein Prozentsatz der in den
Gräbern gefundenen Leichen Männer sein könnten, die im Kampf getötet
wurden." Der Haager Chefermittler Jean-René Ruez geht davon aus, daß
alle 2628 Toten der 28. moslemischen Division bei den Gefechten
zwischen Srebrenica und Tuzla "im Kampf umgekommen" sind (Interview im
Buch von Julija Bogoeva / Caroline Fetscher, Srebrenica - Ein Prozeß).

Selbst wenn man vom death toll von 7000 angeblich "Abgeschlachteten"
die Verschwundenen, die noch am Leben sind, und die Opfer militärischer
Auseinandersetzungen abzieht, bleibt Srebrenica ein schreckliches
Massaker an Wehrlosen. Schätzungsweise 1500 Muslime dürften außerhalb
jeder Kampfhandlungen exekutiert worden sein. Deren Ermordung war ein
Kriegsverbrechen, für das die serbischen Täter zur Verantwortung
gezogen werden müssen. So gerechtfertigt das weltweite Entsetzen über
die Greuel war, so propagandistisch aber auch der Versuch der NATO, sie
als singulär darzustellen.

Zum Vergleich: Wenige Wochen nach Srebrenica - und noch vor dem
NATO-Eingreifen in Bosnien - eroberte die kroatische Armee die
serbische Krajina. 200 000 Menschen wurden vertrieben - mehr als je
zuvor in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Belgrader
Menschenrechtsorganisation Veritas hat ermittelt, daß im Zuge der
Offensive etwa 2 000 Zivilisten verschwanden oder ermordet wurden, der
kroatische Helsinki-Ausschuß für Menschenrechte hat 410 Tote namentlich
identifiziert. Hans Koschnick (SPD) aber rühmte die Operation als
"Versuch, eine Rechtsordnung, eine staatliche Einheit
wiederherzustellen".

Die binäre Struktur der westlichen Propaganda - gute Kroaten und
Muslime, böse Serben - war kühl kalkuliert: Nur durch die Darstellung
des gegenseitigen Gemetzels als Aggression nur einer Partei war ein
Kriegseintritt auf der Seite der angeblichen Opfer zu rechtfertigen.
Fischer kritisierte ganz richtig, "wie die Bundesregierung den
Bundestag ... an der humanitären Nase in den Bosnienkrieg führen will."
So sprach er allerdings im Dezember 1994 - sieben Monate vor Srebrenica.

Kasten

Einige offene Fragen zu Srebrenica

UN-Generalsekretär Kofi Annan hat in seinem Bericht vom 15. November
1999 "ein internes Treffen der bosniakisch(-muslimischen) Führung vom
28. und 29. November 1993 erwähnt, auf dem Präsident Izetbegovic
erklärt habe, (... )er habe in Erfahrung gebracht, dass eine
Intervention der NATO in Bosnien-Herzegowina möglich sei, aber nur
stattfinden könne, wenn die Serben gewaltsam in Srebrenica eindrängen
und dort mindestens 5000 Personen massakrierten". (Srebrenica-Bericht
der Untersuchungskommission der französischen Nationalversammlung,
vorgelegt im November 2001)

Geheime Waffenlieferungen der USA an die Muslime in Srebrenica: "Die
Waffen, die im Frühling 1995 eingeflogen wurden, tauchten vierzehn Tage
später in der belagerten und entmilitarisierten Enklave von Srebrenica
auf. Als diese Lieferungen bemerkt wurden, übten US-Amerikaner auf
Unprofor Druck aus, Berichte umzuschreiben, und als norwegische Beamte
wegen der Flüge protestierten, wurden sie angeblich zum Schweigen
gebracht" (Srebrenica-Bericht des niederländischen Armeeinstituts NIOD,
vorgelegt im April 2002, hier zusammengefasst von der britischen
Tageszeitung "The Guardian", 22. April 2002)

Morde einer moslemischen Mafiagruppe an den eigenen Leuten während der
Flucht aus Srebrenica: "Über die Morde darf man auch heute noch nicht
sprechen. Einige radikalere Kenner der militärischen und politischen
Verhältnisse in Srebrenica wagen es zu behaupten, daß `Zeugen' sogar
liquidiert worden sind, als sich das Hauptkontingent aus Srebrenica
herausgekämpft hat. Während dieses Durchbruchs auf freies Territorium
wurde auf dem Gebiet von Baljkovici Azem Bajramovic, ein
Präsidiumsmitglied der (regierenden Moslempartei) SDA, getötet. Sein
Tod wird als Beispiel angeführt, wie man Zeugen aus Srebrenica zum
Schweigen bringt." (Die moslemische Wochenzeitung Ljiljan aus Sarajevo,
Ausgabe vom 7. August 1996)

"Ich habe von Leuten, die der kroatischen Staatssicherheit nahe stehen
und Kontakte zu den Serben haben, gehört, dass sich an verschiedenen
Orten noch 5600 Überlebende aus Srebrenica befinden." (Ibran Mustafic,
Vorsitzender der regierenden Moslempartei SDA in Srebrenica, von den
Serben nach dem Fall der Stadt gefangengenommen und trotz seiner hohen
Position wieder freigelassen, im Interview mit der muslimischen
Wochenzeitung Slobodna Bosna, 14. Juli 1996)

Autor: Jürgen Elsässer ; in: Freitag, 18. 07. 2003