MILOSEVIC: DREI MONATE VORBEREITUNGSZEIT FÜR DIE VERTEIDIGUNG IM
“PROZESS DES JAHRHUNDERTS” -

EIN VERSUCH DES TOTSCHWEIGENS DER WAHRHEIT

Pressemitteilung der Sektion Québec und Kanada des Internationalen
Komitees für die Verteidigung von Slobodan Milosevic (ICDSM) vom 30.
September 2003-09-30;
Übersetzung: Deutsche ICDSM-Sektion


Die Sektion Québec und Kanada des Internationalen Komitees für die
Verteidigung von Slobodan Milosevic (ICDSM) möchte ihrer Empörung
darüber Ausdruck geben, dass das Internationale Straftribunal für das
ehemalige Jugoslawien (ICTY) entschieden hat, Präsident Slobodan
Milosevic nur drei
Monate Vorbereitungszeit zu gewähren, um seine Verteidigung in einem
„Fall“ darzulegen, der allein auf einer zynischen Fälschung der
turbulentesten zehn Jahre der Geschichte Jugoslawiens aufgebaut ist.

Diese Entscheidung ist ein weiteres Beispiel der Missachtung des ICTY
gegenüber den elementarsten internationalen Normen der allgemeinen
Rechtslehre und den Rechten von Gefangenen. Diese Entscheidung ist auch
ein deutliches Signal, dass diese Institution, geboren unter dem Druck
der
Regierung der USA, - die für ihre eigenen fortgesetzten Verbrechen
rechtliche Straffreiheit institutionalisiert hat - weder als geeignetes
Instrument für die Durchführung eines ordentlichen Verfahrens
geschaffen wurde noch ein solches durchführt. Dieser Prozess versucht
lediglich von einem genaueren Nachforschen nach der Verantwortung des
Westens für die Zerstörung einer Nation abzulenken. Konfrontiert mit
der Weigerung von Präsident Milosevic, die politischen Machenschaften
von Den Haag hinzunehmen, mit seiner prinzipienfesten Verteidigung
seines Volkes und seiner Geschichte, und mit seinem erfolgreichen
Auftreten im Gerichtssaal, versucht das ICTY nun, ihn daran zu hindern,
seine Sicht des Falles darzustellen.

Dies ist Lynchjustiz, wie der bekannte kanadische Strafrechtler Edward
Greenspan meinte.

Bestellung eines Zwangsverteidigers?

Am 4. April 2003 erkannte das ICTY das Recht Slobodan Milosevics an,
sich selbst zu verteidigen, und verwarf einen Antrag der Anklage, gegen
seinen Willen für ihn einen Anwalt zu bestellen. Dieses grundlegende
Recht auf Selbstverteidigung ohne eine gegen den Willen des Angeklagten
vorgenommene Bestellung eines Anwalts ist von allerhöchster Bedeutung.
Der Supreme Court der USA befand, dass es für die Bestellung eines
Anwalts für einen damit nicht einverstandenen Angeklagten keinen
Präzedenzfall gibt, abgesehen von der für politische Prozesse
geschaffenen Sternkammer. Die Anklage versucht nun, diese Angelegenheit
erneut aufzubringen und wird die Bestellung eines Anwalts gegen den
Willen von Präsident Milosevic beantragen, ungeachtet der Tatsache,
dass schon ein solcher Antrag den politischen Charakter des Prozesses
verrät.

Das ICTY stellt in seiner Entscheidung, Slobodan Milosevic zu
gestatten, sich selbst zu vertreten, unter Bezugnahme auf Artikel 21
des Statuts des ICTY fest, dass es “in der Tat der Verpflichtung
nachkommen muss, dass ein Verfahren fair und zügig erfolgt; insofern
die Gesundheit des Angeklagten eine Rolle spielt, hat diese
Verpflichtung eine besondere Bedeutung.“ Artikel 21 bestimmt, dass die
Kammer dieser Verpflichtung “in völliger Achtung der Rechte des
Angeklagten” nachkommen muss.

Mehr zügig als fair?

Die Entscheidung der Kammer, Herrn Milosevic drei Monate Zeit zu geben,
um seine Verteidigung vorzubereiten, steht in völligem Gegensatz zu der
von ihr bekundeten Sorge, ein faires Verfahren zu gewährleisten, sowie
zur Achtung der Rechte des Angeklagten. Es handelt sich um eine
gänzlich unrealistische
Vorbereitungszeit für ein Verfahren dieser Größenordnung, insbesondere
weil Herr Milosevic sich in Haft verteidigt.

Ferner hat die Kammer Herr Milosevic ein weiteres Erschwernis
auferlegt, indem sie ihn anwies, innerhalb von sechs Wochen nach
Abschluss des Vorbringens der Anklage eine ausführliche Liste der von
ihm beannten Zeugen vorzulegen, einschließlich einer Zusammenfassung
der Sachverhalte, zu denen jeder Zeuge aussagen wird, und einem
Hinweis, ob der Zeuge persönlich aussagen wird oder durch schriftliche
Stellungnahme oder mittels eines Aussageprotokolls aus anderen
Verfahren vor dem Tribunal. Er muss ferner die Beweisstücke auflisten,
die er in das Verfahren einzubringen beabsichtigt, und der
Anklagevertretung davon Kopien zur Verfügung stellen. Die Kammer kann
nicht einmal garantieren, dass Herr Milosevic die „Erlaubnis“ erhält,
jeden Zeugen seiner Wahl aufzurufen, da die Entscheidung besagt, dass
die Kammer eine „Verteidigungs-Vorverhandlung“ („Pre-Defence
Conference“) durchführen wird, um die Zeugenliste zwecks Genehmigung zu
überprüfen und die Zeit festzulegen, die ihm für die Darstellung seiner
Position gestattet wird.

Gleichheit der Waffen?

Zahlreiche internationale Konventionen bekräftigen das Recht eines
jeden, der eines Verbrechens angeklagt ist, auf angemessene Zeit und
Mittel, seine Verteidigung vorzubereiten. Dieses Recht ist ein
wichtiger Aspekt des
fundamentalen Prinzips der „Gleichheit der Waffen“, demzufolge die
Verteidigung und die Anklage so zu behandeln sind, dass sichergestellt
ist, dass beide Parteien die gleiche Möglichkeit haben, ihre Position
vorzubereiten und im Laufe des Verfahrens darzustellen. Das Tribunal
hat die Anerkennung dieses Prinzips in seinem Statut bekundet, welches
bestimmt, dass der/die Angeklagte das Recht hat, „die Zeugen gegen ihn
oder sie zu befragen und die Anwesenheit und Befragung von für ihn oder
sie auftretenden Zeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken wie die
Zeugen gegen ihn oder sie.“

Der vom Tribunal bekundete Respekt für die “Gleichheit der Waffen“ wird
Lügen gestraft durch das Fehlen jeglicher Beschränkungen für die
Anklage, die auch nur entfernt jenen vergleichbar wären, die sich gegen
Herrn Milosevic auswirken. Dieser hatte es während des „Falles“ der
Anklage im Verlauf von über 250 Verhandlungstagen mit fast 300 Zeugen
zu tun und erhielt über 500.000 Seiten Material zum Verfahren zur
Durchsicht zugestellt. Allein die Last der Vorbereitung der
Kreuzverhöre so vieler Zeugen in einer Gefängniszelle ist erschreckend.
Und jetzt hat er gerade einmal drei Monate, um diese Masse an
Zeugenaussagen und Dokumenten
durchzugehen und die bisher vorliegenden Protokolle durchzusehen. Er
hat sechs Wochen, um Zeugen der Verteidigung zu identifizieren, zu
treffen und zu interviewen, sowie Schlüsseldokumente der Verteidigung
auszuwählen und
anzubieten. Beim Durchsehen der eine halbe Million Seiten an
Mitteilungen würde nur das Lesen allein 347 Tage à vierundzwanzig
Stunden in Anspruch nehmen. Das macht mehr als zehn Monate, nicht drei.
Im Gegensatz dazu hat das ICTY seine „Koso-Anklage“ vor viereinhalb
Jahren erhoben und hatte eine zweijährige Vorbereitungszeit für seine
zusätzlichen Anklagen im Jahre 2001 mit Bezug auf die Konflikte in
Croatien und Bosnien. Die Anklage hatte acht Jahre Zeit, um
Beweismaterial zu Srebrenica zu sammeln.

Das Leben von Präsident Milosevic ist in Gefahr!

Die Entscheidung, nur drei Monate Vorbereitungszeit und nur sechs
Wochen für die Vorlage der Zeugenliste nebst Zusammenfassung ihrer
Stellungnahmen zu gewähren, lässt den Gesundheitszustand von Präsident
Milosevic gänzlich
unberücksichtigt. Durch die wiederholten Unterbrechungen des Verfahrens
musste das Gericht zu Kenntnis nehmen, dass die UN-Ärzte Recht hatten,
als sie berichteten, dass das Leben von Präsident Milosevic wegen der
Intensität des Verfahrens in Gefahr ist. Die Gewährung von nur drei
Monaten Vorbereitungszeit erhöht seine Stress-Situation und könnte zu
erhöhtem Blutdruck, Schlaganfall und Tod führen

Im November letzten Jahres stellte das ICDSM Antrag auf Gehör vor der
Kammer, um zu begründen, dass der gesundheitliche Zustand von Slobodan
Milosevic eine sofortige spezialisierte medizinische Betreuung
erfordert, und dass sein Gesundheitszustand es erforderlich macht, dass
er aus der Haft
entlassen wird, und ihm ausreichend Zeit für seine Rekonvaleszenz
gegeben wird, sowie dass ihm erlaubt wird, seine Verteidigung unter
Nicht-Haftbedingungen vorzubereiten. Das ICTY hat diesem Antrag nicht
stattgegeben, hat ihn aber auch nicht abgelehnt. Das „Tribunal“ hat ihn
einfach ignoriert.

Erschreckende Bedingungen

Zusätzlich zu dem Umstand, nur drei Monate zur Vorbereitung seine
Verteidigung zu haben, muss Herr Milosevic dies aus einer
Gefängniszelle heraus unter erschreckenden Bedingungen tun. Gegenwärtig
kann Herr Milosevic nicht mit seiner Frau und seiner Familie
zusammentreffen. Seine engsten Mitstreiter und Freunde sind für ihn
unzugänglich, da der Registrar des Tribunals den Kontakt mit seiner
Partei, der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), und „assoziierten
Einheiten“ verboten hat. Sloboda, die federführende Vereinigung zur
Verteidigung von Präsident Milosevic wurde als verbotene Gruppe
aufgelistet. Der Registrar verhängte diese Maßnahme aufgrund des
Verdachts, dass zwei SPS-Mitglieder mit der Presse gesprochen haben.
Die Vorbereitung der Verteidigung von Präsident Milosevic erfordert,
dass er mit Zeugen und sachlich kompetenten Personen zusammentrifft,
von denen nun viele nicht in der Lage sind, mit ihm zusammenzutreffen,
weil sie unter Verbot
stehen. „Assoziierte Einheiten“, das kann jeder sein; der Registrar
bestimmt darüber nach Gutdünken. Sloboda hat das Verbot aus
Rechtsgründen angefochten. Eine Antwort des ICTY lässt auf sich warten.

Außer diesen gravierenden Einschränkung der Kontakte von Präsident
Milosevic mit seinen engsten Beratern, hat der Registrar nur
unzureichende technische Möglichkeiten zur Vorbereitung seiner
Verteidigung zur Verfügung gestellt. Ihm wurde der kontrollierte Zugang
zu einigen rudimentären Möglichkeiten der elektronischen und gedruckten
Kommunikation erlaubt (Telefon, Fax, ein Computer in seiner Zelle, ein
VCR zur Ansicht von Prozess-Filmmaterial), aber die Häufigkeit und
Dauer von Besuchen seiner rechtlichen Berater sind eng umgrenzt,
belaufen sich, wenn überhaupt, auf wenige Stunden in der Woche und sind
in Wirklichkeit auf die Tage beschränkt, wenn die Verhandlung früh
beendet ist.
Ebenso bezeichnend ist es, diese Bedingungen und technischen
Möglichkeiten, die einem Mann erlaubt werden, der sich gegen die
weltweit denkbar schwersten Beschuldigungen allein verteidigt, mit den
gewaltigen
Hilfsmitteln zu kontrastieren, die dem Büro der Staatsanwaltschaft zur
Verfügung stehen, sowie mit den unbeschränkten Vorrechten der
Staatsanwaltschaft, mit ihren Ermittlern, Assistenten und Forschern und
verschiedenen anderen Mitgliedern ihres weit größeren Teams zu
konferieren.
Die Sprecherin der Anklage ist bei gemeinsamen Pressekonferenzen mit
dem Sprecher des ICTY anwesend, während Slobodan Milosevic nicht mit
Mitgliedern seiner Partei, Sloboda oder undefinierten „assoziierten
Einheiten“
zusammentreffen kann, weil zwei einzelne Personen verdächtigt werden,
gegenüber über ihre Begegnung mit ihm mit Medien gesprochen zu haben.

Ein öffentliches Verfahren?

Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN
bekräftigt die Unschuldsvermutung und das Recht des Angeklagten auf
Öffentlichkeit des Verfahrens. Aber das „Verfahren“ von Slobodan
Milosevic ist oft nicht öffentlich und gegen den prüfenden Blick der
internationalen Öffentlichkeit
abgeschirmt. Sicherheitsbelange werden systematisch angeführt, um die
zahlreichen geschlossenen Sitzungen zu rechtfertigen, die Anonymität
der Zeugen sowie „ex parte“-Anträge der Anklage, Anträge, deren Inhalt
Milosevic nicht berechtigt ist zu überprüfen. In den letzten sechs
Monaten hat die Kammer sieben Entscheidungen aufgrund von ex
parte-Anträgen gefällt. Ein weiteres Grundrecht ist es, beim eigenen
Prozess anwesend zu sein. Wenn Herr Milosevic die Vorlagen der
Anklagevertretung an die Richter nicht lesen kann, geschweige denn auf
sie zu antworten, kann dann behauptet werden, dass er bei seinem
Verfahren tatsächlich anwesend ist?

Präsident Milosevic freilassen!

Diese Vorgänge zeugen von einem Prozess, der mehr zügig als fair ist,
und veranlassen die Sektion Québec und Kanada des ICDSM noch einmal die
Forderung des ICDSM nach einer zweijährigen Unterbrechung des Prozesses
zu wiederholen, um Slobodan Milosevic zu ermöglichen, seine Verteidigung
vorzubereiten, die Einschränkung seiner Besuchsrechte zu beenden und
sich gesundheitlich durch einen Arzt seiner Wahl behandeln zu lassen.
Er muss aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Anders zu
verfahren, hieße nur die
schändliche Verhöhnung der Rechtsprechung in Den Haag fortzusetzen.
Allerdings ist das gründlichste Heilmittel zur Beendigung dieses
Justizzirkus - ein Heilmittel, das wir unterstützen - die vollständige
Auflösung dieses unheilbar politisierten „Gerichts“ und die Entlassung
aller seiner Gefangenen.

30. September 2003

Übersetzung aus dem Englischen: Klaus von Raussendorff