Handke: "Jugoslawien war das Beispiel, wie Europa hätte anders sein
können"


0. ES LEBE DER TRÄUMER, DER AN DAS „NEUNTE LAND“ GLAUBTE


1. Meuteopfer des Tages: Peter Handke

JungeWelt, 27.05.2006


2. Handke sagt die reine Warheit: Milosevic hat von Srebrenica-
Massaker nichts gewusst, sein Tod wurde billigend in Kauf genommen
worden, und den Krieg haben Slowenen begonnen

Der Standard (Wien), 30. 6. 2006


3. "Jugoslawien war das Beispiel, wie Europa hätte anders sein können"

Handke glaubt an neue Jugoslawien-Diskussion in der Zukunft -"Serbien
ist für den Moment verloren, nicht für die Ewigkeit"

Der Standard (Wien), 16. 6. 2006


4. Der österreichische Schriftsteller Peter Handke in einem raren
ausführlichen STANDARD-Interview

"Instrumentalisiert wurde ich ja wohl eher von den West-Medien"
"(Srbljanovic hatte) einen riesigen Artikel für den Spiegel
geschrieben, so, als ob der Krieg nichts wäre. Alles ungefährlich!
Da passiert gar nichts, wir wollen nur unseren Tyrannen los haben,
und wir haben auch eine schöne Zeit, es splittern halt ein paar
Fenstergläser. (...) Seitdem, tut mir leid, verachte ich diese Frau.
(...) So wie es früher die Jubelperser gab, so gibt es heute wohl die
Parade-Serben, die Berufs-Exjugoslawen."

Der Standard (Wien), 9. 6. 2006


5. WEITERE "STANDARD"-ARTIKELN (LINKS)


=== 0 ===

ITA : Appello: VIVA IL SOGNATORE DEL NONO PAESE
https://www.cnj.it/CULTURA/handke.htm#appello

S-H : ŽIVEO ZALJUBLJENIK U 9. ZEMLJU !
https://www.cnj.it/CULTURA/handke.htm#handke_sh

ENG : LONG LIVE THE DREAMER OF THE NINTH COUNTRY
https://www.cnj.it/CULTURA/handke.htm#handke_en

SLO : ŽIVEL ZALJUBLJENI V 9. DEŽELO !
https://www.cnj.it/CULTURA/handke.htm#handke_slo

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https://www.cnj.it/CULTURA/handke.htm#handke_de

ES LEBE DER TRÄUMER, DER AN DAS „NEUNTE LAND“ GLAUBTE


Irgendjemand glaubte bereits alles gesehen zu haben, doch es fehlte
noch etwas.

Wir sahen bereits den Bruderkrieg, entfesselt durch die Revanchisten
der neuen europäischen Hitler-Ordnung mit all der Zerstörung, Folter
und gewaltsamen Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen. Wir sahen,
wie die „Internationale Gemeinschaft“ beschloss, ein großes Land
von der Landkarte verschwinden zu lassen, sechs Bananenrepubliken zu
schaffen, die nach völkischer Methode der SS möglicherweise bald
acht sein werden.
Darüber hinaus sahen wir, dass die Nazis heilig gesprochen wurden.
Züge wurden bombardiert, Waffen in Krankenwagen verschoben,
Arbeitsplätze ausgelagert, die Menschen gezwungen, die selbe von
ihnen benutzte Sprache mit vier oder fünf verschiedenen Namen zu
bezeichnen. Die bodenstämmige Landbevölkerung wurde als
„Invasor“ bezeichnet und als „Befreier“ jene, die die
Uranabreicherung brauchen. Der Zigarettenschmuggler wurde mit einem
Lehen beschenkt; Menschen wurden mit Flaschen vergewaltigt, oder
entführt und ihre Leiche tauchte nicht mehr auf; mittelalterliche
Fresken wurden mit Pickeln herausgeschlagen, Brücken mit Kanonen
beschossen, Köpfe abgeschnitten, Häuser der armen Bevölkerung
beschlagnahmt und fremden Investoren gegeben. Die Geschichte wird neu
geschrieben, um die Partisanen mit Schmutz zu bewerfen und Wesire und
Feudalherren zu rehabilitieren.

Irgendjemand von uns meinte, dass er bereits alles gesehen hätte. Es
fehlte allerdings noch, dass Dichter auf den Index gesetzt wurden.
Dem größten zeitgenössischen deutschsprachigen Dramaturg werden die
Anerkennungen entzogen und seine Stücke zensiert.
Es kommt nicht von dort unten, aus dem „Land der Kriege“, wohl
aber von hier, aus Frankreich und Deutschland, aus jenem Europa,
welches jenes von Voltaire und Goethe sein möchte. All das gesehen zu
haben und sogar darüber berichten zu wollen, wird jetzt hier, in
diesem Europa als Todsünde betrachtet. Hier auf dem Boden der
internationalen Gerichte, wo es verboten wird, Fragen zu stellen, zu
reisen, Gespräche zu führen mit jenen, die man nicht kennen darf.
Hier ist es, wo es verboten ist, den „Feind“ wie einen Menschen zu
beschreiben, mit ihm zu reden, zu verstehen.
Die „Todsünde“ Peter Handkes ist tatsächlich, dass er als
„Zeuge“ – wie er es selbst bezeichnete – an der Beerdigung von
Slobodan Milosevic teilnahm. Jenem Milosevic, der für Europa als
einziger, absoluter Sündenbock herhalten soll, jener Milosevic, der
bis zuletzt der zerstörerischen Rechthaberei Europas Widerstand
leistete und schliesslich in den Tod getrieben wurde.

Dieses „Europa“, das sich seine Todfeinde aus seinen eigenen
Reihen schafft, ist einfach widerwärtig. Europa ohne Jugoslawien ist
unerträglich. Es kann niemals unsere Heimat sein.

Handke bezieht sich auf das „neunte Land“ als Metapher für
Jugoslawien, wie er in seinem ersten Text, den er zu Beginn der
losbrechenden Tragödie auf dem Balkan im Jahre 1991 schrieb. Wir
haben den dringenden Bedarf von Menschen wie Peter Handke, die vom
„neunten Land träumen“. Ihm gilt unsere Hochachtung, Bewunderung
und Solidarität.


„Das multiethnische Jugoslawien war das Modell für ein Europa der
Zukunft. Anders als unser künstliches Europa des Freihandels von
heute. Jugoslawien war ein Ort, in dem verschiedene Nationalitäten
auch nach dem Tod Titos friedlich miteinander lebten. Das wäre ein
Europa, wie ich es gern hätte. Deshalb wurde Europa, so wie ich es
mir vorgestellt hatte, mit der Zerstörung von Jugoslawien zerstört.“
(Peter Handke)


Um die Petition zu unterstuetzen: jugocoord @ tiscali.it

Die Unterzeichner ( https://www.cnj.it/CULTURA/handke.htm#firme )

Tamara Bellone (Torino)
Peter Behrens (Trieste / Trst)
Giuseppe Catapano (Roma)
Paola Cecchi (Firenze)
Claudia Cernigoi (Trieste / Trst)
Adriana Chiaia (Milano)
Spartaco Ferri (partigiano, Roma)
Mauro Gemma (Torino)
Fulvio Grimaldi (Roma)
Dragomir Kovacevic (Alessandria)
Olga Juric (Paris)
Teodoro Lamonaca (Torino)
Serena Marchionni (Bologna)
Andrea Martocchia (Bologna)
Gian Luigi Nespoli (Sanremo)
Sandra Paganini (Roma)
Ivan Pavicevac (Roma)
Miriam Pellegrini Ferri (partigiana, Roma)
Fausto Sorini (Bologna)
Jasna Tkalec (Zagreb)
Gilberto Vlaic (Trieste / Trst)
Giuseppe Zambon (Frankfurt am Main)

Enzo Apicella (London)
Alessandro Leoni (PRC Toscana)
Aldo Manetti (PRC Toscana)
Mauro Lenzi (PRC Toscana)
Stefano Cristiano (PRC Toscana)
Susanna Angeleri (PRC Arezzo)
Donella Petrucci (PRC Toscana)
Ugo Bazzani (PRC Pistoia)
Sandro Trotta (PRC Livorno)
Luciano Giannoni (PRC Livorno)
Roberto Cappellini (PRC Pistoia)
Claudia Rosati (PRC Firenze)
Jacopo Borsi (PRC Firenze)
Mauro Gibellini (PRC Massa-Carrara)
Sergio Quarta (Giugliasco, CH)
Mirella Ruo (Casale Monferrato)
Francesco Pappalardo (PRC Piombino)
Angela Biscotti (Mainz)
Luciano Giannoni (PRC Livorno)
Gio Batta (Titen) Prevosto (Circolo SanremoCuba, Sanremo)
Pasquale Vilardo (Giuristi Democratici, Roma)
Carlo Pona (Roma)
Marcello Graziosi (Modena)
Andrea Catone (Bari)
Enrico Barba (Gorizia / Stara Gorica)
Jean Toschi Marazzani Visconti (Milano)
Boris Bellone (Torino)

Rudolf Baloh (Kočevje SLO)
Massimiliano Ay (Partito Svizzero del Lavoro, Bellinzona CH)
Alexander Hobel (Napoli)
Silvano Ceccoli (Genova)
Giuseppe Aragno (Napoli)
Uberto Tommasi (Verona)
Paolo Teobaldelli (Buenos Aires)
Curzio Bettio (Padova)
Gianni Volonté (Como)
Carla Francone (Nuova Unità, Firenze)
Daniele De Berardinis (Nereto, TE)
Centro Popolare La Fucina / Pacifico Saber (Sesto San Giovanni MI)
Enrico Vigna (Torino)
Angelo Baracca (Firenze)
Amélie Glissant (Paris)
Marie-Françoise Philippart (Paris)
Radmila Wolf (Paris)
Robert Wolf (Paris)
René Lefort (Paris)
Annie Lacrox Riz (Paris)
Joseph Kaminski (Paris)
Branko Kitanovic (NKPJ Beograd)
Branimir Ivanovic (Beograd)

Tiziano Cavalieri (PRC Firenze)
Nikola Stojiljkovic (Vranje)
ALJ / Paola Ferroni (Bologna)
Anita Krstic (Milano / Beograd)
Ida Vagli (Torino)
Stana Milanovic (Torino)
Mauro Cristaldi (Roma)
Francesco Bachis (Cagliari)
Pierfrancesco Semerari (Bari)
Gianni Ursini (Trieste)
Ljiljana Milic (Vranje)
Ivana Kerecki (Milano)

Roberto Capizzi (PRC Enna)
Emanuela Caldera (Milano)
Hannes A. Fellner (Wien)
Claudio Debetto (Pontestura AL)
Alfred L. Marder (USA)
Roman Mulic (NKPJ Beograd)
Branko Ivanovic, (NKPJ Beograd)
Vladimir Jankovic (NKPJ Beograd)
Dusan Tomovic, (NKPJ Beograd)
Vesna Milunovic (NKPJ Beograd)
Aleksandar Jovanovic (NKPJ Beograd)
Ljubisav Krunic (NKPJ Beograd)
Andrej Glisic (NKPJ Pančevo)
Aleksandar Djordjevic (NKPJ Kobilje)
Biljana Knezevic (NKPJ Stara Pazova)
Vlastimir Petrovic (NKPJ Golubac)
Djordje Junkovic (NKPJ Požarevac)
Zivorad Mitic (NKPJ Makce)
Radomir Milojevi (NKPJ Veliko Gradište)
Petar Susnjar (NKPJ Novi Sad)
Predrag Jeremic (SKOJ Beograd)
Marijan Kubik (SKOJ Veliko Gradište)
Mirjana Milojevic (SKOJ Veliko Gradište)
Bojan Radosavljevic (SKOJ Kragujevac)
Teodor Stankovic (SKOJ Vrnjačka Banja)

Communist Youth League of Norway
New Communist Party of Britain / Andy Brooks (General Secretary)
Bruno Steri (Roma)
Romanian Peace Council (member of the BAN-Center)
Antonio Grassedonio (CGIL Torino)
Guido Montanari (Torino)
Aleksandra Radonic (Srbija)


=== 1 ===

www.jungewelt.de

JungeWelt, 27.05.2006 / Ansichten

Meuteopfer des Tages: Peter Handke

Die Vergabe des Heinrich-Heine-Preises an den österreichischen
Schriftsteller Peter Handke hat in der veröffentlichen Meinung
erwartungsgemäß kein positives Echo gefunden. »Trotz Milosevic:
Handke erhält den Heine Preis«, geiferte Caroline Fetscher im
Berliner Tagesspiegel. 50000 Euro mache der Preis aus, rechnete sie
vor – »Steuergelder, die nun in Handkes Tasche fließen sollen«.
Wo doch des Dichters Kasse schon sehr klamm gewesen sei. Die
Preisverleiher erscheinen als Embargobrecher, die sich ihrer
Verpflichtung, Handke das literarische Handwerk zu legen und ihn in
die Knie zu zwingen, entziehen. Denn bei Milosevic, dem sich der
Kärntner Dichter mit slowenischen Wurzeln »nahe fühlte«, wie er an
dessen Grab bekundete, hört sich die Meinungsfreiheit auf.

Die Begründung der Juroren, Handke verfolge »eigensinnig wie
Heinrich Heine den Weg zu einer offenen Wahrheit«, empfindet Hans-
Christoph Buch wie blanken Hohn. Sei doch Heine unberirrbar »gegen
nationalen Chauvinismus, für Freiheit und Toleranz« eingetreten.
Heine, der sich Karl Marx nahe fühlte, hat sicher eine andere
Vorstellung von Freiheit und Toleranz gehabt als die heutige
Journalistenmeute, die einen Schriftsteller, der Serbien
Gerechtigkeit widerfahren lassen will, in den moralischen und
finanziellen Ruin hetzen möchte. Und die Heine, würden sie ihm
Gerechtigkeit widerfahren lassen, das Naheverhältnis zu jenem Mann
verübeln müßten, den sie als den Begründer des »kommunistischen
Totalitarismus« betrachten, dessen letzte Schreckensfigur sie in
Slobodan Milosevic zu sehen glaubten.

Empört wirft der Mann von Welt Handke vor, während des Kosovo-
Krieges NATO-Piloten als »Marschmenschen« und »grüne Killer«
beschimpft zu haben. In politisch korrektem Debattenstil wird die
inhaltliche Substanz dieser Aussage erst gar nicht mehr erörtert,
sondern als jeder Erörterung unwürdig denunziert. Die bombige
NATO-»Friedensmission« als Kriegsverbrechen zu benennen, ist
offenbar keine Meinung, sondern ein serbisches Kriegsverbrechen.
Meilenweit, so Buch, habe sich Peter Handke vom Konsens der
Zivilgesellschaft entfernt, der da lautet: Wer nicht mit den Wölfen
heult, hat die Klappe zu halten.


=== 2 ===

http://derstandard.at/?id=2498319

Der Standard (Wien), 30. 6. 2006

Thema Balkan-Kriege: Handke kann's nicht lassen

Autor: Milosevic hätte von Srebrenica-Massaker nichts gewusst, sein
Tod wäre billigend in Kauf genommen worden, und den Krieg hätten
Slowenen begonnen


Zagreb - Der im niederländischen Sondergefängnis des UNO-
Kriegsverbrechertribunals verstorbene jugoslawische Ex-Präsident
Slobodan Milosevic hatte nach Auffassung des österreichischen
Schriftstellers Peter Handke keine Verantwortung für das von bosnisch-
serbischen Militärs angerichtete Massaker an rund 8000 muslimischen
Bosniaken in Srebrenica 1995 getragen. Milosevic habe auch keine
Kenntnis davon gehabt, sagte Handke laut einem Bericht in der
neuesten Ausgabe der kroatischen Wochenzeitung "Globus". In früheren
Interviews hatte Peter Handke das Srebrenica-Massaker als
"scheußlich" und als "größtes Töten seit dem Zweiten Weltkrieg"
bezeichnet.

Slowenien, Dubrovnik

In dem "Globus"-Interview vertrat Handke die Meinung, nicht Milosevic
habe den Krieg im ehemaligen Jugoslawien begonnen, sondern es seien
die Slowenen gewesen. Zu den serbischen Artillerieangriffen auf die
historische kroatische Adriastadt Dubrovnik im Herbst 1991 bemerkte
er: "Ich denke, dass Dubrovnik nicht angriffen wurde, und falls es
doch angegriffen wurde, dann nicht das Zentrum, nicht die Altstadt."
Gerade in der Altstadt von Dubrovnik, von der Erziehungs-,
Wissenschafts- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen (UNESCO)
zum Weltkulturerbe erklärt, hatten serbische Granaten großen Schaden
angerichtet und mehrere Menschen getötet.

"Ewige Schande"

Handke glaubt außerdem, dass das UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den
Haag den Tod Milosevics "billigend in Kauf genommen" habe. Das sei
eine "ewige Schande" für das UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den
Haag. "Man hat ihn einfach krank werden und immer kranker werden
lassen. Man hat - wie das im Strafgesetzbuch steht - seinen Tod
billigend in Kauf genommen", sagte Handke in einem Gespräch mit dem
Fernsehsender 3sat, das am Samstagabend (19.05 Uhr) in der Sendung
"Kulturzeit" ausgestrahlt werden soll. (APA/dpa)


=== 3 ===

http://derstandard.at/?id=2482898

Der Standard (Wien), 16. 6. 2006

"Jugoslawien war das Beispiel, wie Europa hätte anders sein können"

Handke glaubt an neue Jugoslawien-Diskussion in der Zukunft -"Serbien
ist für den Moment verloren, nicht für die Ewigkeit"


Zürich - Der österreichische Schriftsteller Peter Handke setzt auf
eine neue Jugoslawien-Diskussion. Nach den Debatten und Polemiken der
vergangenen Wochen halte er es für möglich, dass "eine Diskussion
über das jugoslawische Problem stattfinden kann, die vorher so nicht
möglich war", sagte Handke der "Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)" für
ihre Samstagausgabe.

Nach dem Eklat um die Absetzung eines seiner Stücke vom Spielplan der
Pariser Comédie francaise und der verweigerten Annahme des Heine-
Preises der Stadt Düsseldorf nahm Handke erneut Stellung zu seiner
Parteinahme für Serbien. Als Grundmotivation seines Engagements
nannte er eine einseitige internationale Verurteilung des serbischen
Vorgehens während der Auflösung Jugoslawiens. Während die meisten
anderen Republiken ihren Vorteil in der Abspaltung gesucht hätten,
sei es als einzige die serbische Regierung unter Slobodan Milosevic
gewesen, die Jugoslawien "bis zuletzt" habe erhalten wollen.

"Utopisches System"

Das Jugoslawien von Kommunistenführer Josip Broz Tito begreift Handke
dem Interview zufolge als "utopisches System", das freilich nur
funktionieren konnte, solange die Wirtschaft rund lief. "Jugoslawien
war das Beispiel, wie Europa hätte anders sein können", sagte der
Schriftsteller der "NZZ". Die "Jugoslawien-Energie" werde nicht
sterben, "ob man das nun Nostalgie nennt oder nicht".

Das Massaker von Srebrenica bezeichnete Handke als "scheußlich". Es
sei als "blinde, böse Rache" für die Verbrechen zu begreifen, die
eingeschlossene muslimische Einheiten bei ihren Ausfällen aus dem
Kessel begangen hätten. Ein Tötungsbefehl Milosevics habe sich indes
nicht nachweisen lassen.

Kein "Autokrat im strengen Sinn"

Auf die Frage, warum er sich nicht auf die Seite der serbischen
Demokratiebewegung geschlagen habe, erklärte Handke, dass Milosevic
kein "Autokrat im strengen Sinn" gewesen sei. Serbiens Perspektiven
sieht Handke düster: "Serbien ist für den Moment verloren, nicht
für die Ewigkeit." (APA/AP)


=== 4 ===

http://derstandard.at/?id=2475369

Der Standard (Wien), 9. 6. 2006

"Instrumentalisiert wurde ich ja wohl eher von den West-Medien"

Der österreichische Schriftsteller Peter Handke in einem raren
ausführlichen STANDARD-Interview


Den Heine-Preis hat er, wie seit Donnerstag bekannt ist, abgelehnt.
In der Debatte rund um sein umstrittenes Engagement für Serbien
argumentiert er ungebrochen streitbar. Mit Peter Handke sprach Claus
Philipp.


Chaville-Vélizy - Peter Handke sitzt im Garten seines Häuschens in
einem kleinen Pariser Vorort, unweit von Versailles. Vor ihm, wie
könnte es anders sein, die ersten Eierschwammerln aus dem nahe
gelegenen Wald. Er sagt: "Ich bin ein bisschen erschöpft."

Nein, es ist nicht die - zumindest für die internationalen
Feuilletons zunehmend aufregende und aufreibende - Debatte, ob Handke
nun ein würdiger Heine-Preisträger sei oder nicht: Dass er den Preis
nicht annehmen wird, hat der Schriftsteller dem Bürgermeister von
Düsseldorf längst schriftlich mitgeteilt, und dass dieser den Brief
gestern entgegengenommen und sein Bedauern ausgedrückt hat, ist nur
ein weiterer Eckpunkt einer Debatte, die Handke durchaus als belebend
und neue Perspektiven eröffnend sieht. Wie wird er später im
Gespräch sagen: "Nicht meinetwegen, sondern Serbiens wegen."

Erschöpft ist der Dichter, weil er soeben eine kurze, intensive Reise
durch die spanische Sierra de Gredos, den Schauplatz seines letzten
großen Romans Der Bildverlust, abgeschlossen hat. Ein Grüppchen von
Übersetzern hat er eingeladen, die Orte und Berge, in denen sie sich
in den letzten Jahren nur als Lesende bewegten, einmal in natura
kennen zu lernen. "Einer hat sich leider beim Bergwandern verlaufen.
Lange habe ich ihn gesucht . . ."

Ansonsten: Es sei ein bewegendes Erlebnis gewesen, den Bildverlust in
diversesten Sprachen von den Übersetzern vorgelesen gehört zu haben.
"Das ist Prosa, dachte ich, auch wenn ich rein gar nichts verstanden
habe", so Handke, "und wenn auch dieses Buch vielleicht nicht
bleibt . . . Prosa wird es immer geben."

Und bis auf Weiteres wohl auch Diskussionen über Peter Handke, der im
Gespräch mit dem STANDARD sich sehr schnell an der Auseinandersetzung
rund um sein Engagement für Serbien zu entzünden vermag.


"Warum soll ich gekränkt sein?"

STANDARD: Was von dem, was sich in Sachen Heine-Preis an Rede und
Widerrede ereignete, haben Sie wahrgenommen? Was wollten Sie zur
Kenntnis nehmen?

Peter Handke: Eher nicht wahrnehmen möchte ich das, was ich schon
kenne - das Dreinschlagen und die Wiederholungstasten-Schreibe, die
es seit einem Jahrzehnt zur Genüge gibt. Aber wenn hier und da einmal
ein neuer Ton zu hören oder zu lesen ist - das interessiert mich
schon. Nicht meinetwegen, sondern Serbiens wegen.

STANDARD: Die serbische Schriftstellerin Biljana Srbljanovic schrieb
zuletzt, Sie hätten "keine Ahnung von der Realität in Serbien".

Handke: Darauf kann ich ihr nur antworten: Ahnung ist für mich das
Entscheidende.
Wissen ist etwas viel Leichteres als Ahnung. Wenn mir jemand
vorwürfe, ich wüsste nicht alles, dann würde ich wohl zustimmen.
Aber Ahnung, im Sinne von Eichendorffs Ahnung und Gegenwart - da
stimme ich Srbljanovic nicht zu.
Ich ahne, dass ich Ahnung habe - weniger vom jetzigen Belgrad, wie es
nach dem Krieg, und nach dem Sturz von Slobodan Milosevic wirkt und
ist, als von ganz Serbien. Ich habe es in den letzten Jahren viel
durchreist. Die Städte, die Flüsse, das Land: Das kenne ich. Obwohl:
Kennen hat immer so einen seltsamen Anruch. Ich hab das Land in mir.
Und wenn ich auch nicht fließend Serbokroatisch spreche: Ich kann es
verstehen, ich kann mich verständigen, ich kann zuhören. Oft und oft
hab ich erlebt, wenn ich als "Zugereister" erzählte von Serbien, dass
Leute dort sagten: Wir Serben kennen unser eigenes Land nicht.

STANDARD: In Ihrer "Winterlichen Reise", dem ersten Reisebericht aus
Serbien, erschienen 1996, hinterfragen Sie ja den durchaus
doppelbödigen Satz: "Was weiß ein Fremder?" Uns frappiert es doch
in Österreich auch, wenn uns von außen gewisse Charakteristika
zugesprochen werden, die wir vehement von uns weisen.

Handke: Nicht selten haben wir damit ja auch Recht. Aber einen von
außen, der reist, ohne die Leute zu charakterisieren, der nur sieht
und beschreibt - den würden wir Österreicher oft brauchen.

STANDARD: Wenn Sie sich in der Diskussion eine "Öffnung" wünschen -
konnte dieser Wunsch nicht lange Zeit auch angesichts Ihrer eigenen
Position Berechtigung haben?

Handke: Wieso?

STANDARD: Journalistischen Positionen oder jenen anderer
Intellektueller standen Sie doch sehr oft polemisch gegenüber. Im
zweiten Serbien-Bericht "Unter Tränen fragend" (1999) unterstellen
Sie den kommenden Rezensenten immer wieder, dass man Ihnen jetzt wohl
alles als "proserbisch" auslegen wird. Verletzt konstatieren Sie,
dass Leute plötzlich ostentativ an Ihnen vorbei sehen.

Handke: Das war nach meiner Lesung in Ljubljana, wo das slowenische
Fernsehen auf mich als Staatsfeind losgeprügelt hat. Am nächsten Tag
haben auf der Straße alle Leute wie elektrifiziert den Kopf
weggedreht, wenn sie mich sahen. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Und ich habe es halt als Phänomen beschrieben.

STANDARD: Der Eindruck von Gekränktheit ist also unberechtigt?

Handke: Warum soll ich gekränkt sein? Gestaunt habe ich, dass es so
etwas noch gibt: Kollektive Verfemung. Andererseits ist so etwas
heute meist nach zehn Tagen wieder vorbei, eine kleine Episode. Aber
als zuletzt die Comédie-Fran¸caise mein Stück annulliert hat,
lief's ähnlich: Die Leute wichen mir auf der Straße aus. Das gibt
mir zu denken. Ich habe die Menschheit ja eigentlich nie verstanden.
Aber jetzt verstehe ich sie noch weniger.
Alle meine Jugoslawien-Texte gehen von einer positiven Bewegung aus.
Ich möchte für etwas sein und nicht irgendwelche Gegnerschaften
pflegen. Natürlich unterlaufen mir dann einige syntaktische
Fußtritte, nach links und rechts. Das ist mir auch nicht unrecht.

STANDARD: Die Fußtritte sind halt ein schlechter Ausgangspunkt, wenn
man an die Vernunft oder zumindest ein Verständnis in einer ohnehin
hochgekochten Situation appellieren will.

Handke: Solche Appelle haben eh keinen Sinn. Das Einzige, was ich
wirklich bedaure, ist, dass ich das von mir Geschriebene vor Lesungen
mitunter als "Friedenstext" deklarierte. Diese Tautologie war völlig
überflüssig. Und indem man so etwas sagt, schwächt man schon die
Texte ab. Das bedauere ich: Hier öffentlicher Spieler - "bitte hört
zu!" - geworden zu sein. Das war nicht notwendig.

STANDARD: Schon die erste, die "Winterliche Reise" beginnen mit einer
durchaus scharfen Attacke gegen die europäische Zeitungen als
"Kriegstreiber". Es muss Ihnen doch klar gewesen sein, dass Sie damit
heftige Reaktionen auslösen, die möglicherweise vom letztlich
unaufgeregten, melancholischen Duktus der eigentlichen Reiseerzählung
ablenken.

Handke: Ja, das können Sie jetzt sagen. Nachher ist man immer
gescheit. Ich musste das damals aber loswerden, nach Jahren der
völlig einbahnmäßigen, zunehmend unerträglichen "Information".
Ja, vielleicht hätte ich nur über die leeren Straßen, die Kälte,
die Drina erzählen sollen. Aber dann hätte das Buch wahrscheinlich
überhaupt niemand gelesen.

STANDARD: Sie haben auch im Nachhinein überhaupt kein Verständnis
für mögliche Überforderungen aufseiten der Kriegskorrespondenten
und Kommentatoren?

Handke: Ich habe für die meisten immer noch kein Verständnis. Wenn
man schon im ersten Satz eines so genannten Berichts die Tendenz und
das Ressentiment spürt - für mich ist das unerträglich.
Ich bin kein Journalist. Ich erzähle auf meine Weise, so wie Goethe
damals die Kanonade von Valmy in der französischen Revolutionszeit
auf seine Weise beschrieben hat. Und auch wenn seine Erzählung
letztlich voll von Nebensächlichkeiten war, noch schlimmer als bei
mir, ist sie doch - vielleicht dank Goethe - geblieben.
Was soll ich sagen? "I did it my way." Als ich seinerzeit im profil
gegen Kurt Waldheim schrieb, habe ich noch illusionär gedacht, ich
könne damit etwas bewirken. Jetzt weiß ich: Es ist nichts zu machen.

STANDARD: Sie haben doch durchaus viel bewirkt. Gerade jetzt wieder
rund um diese Debatte . . .

Handke: Die hat aber der Heine-Preis in Gang gesetzt, nicht ich.

STANDARD: . . . und durch die Tatsache, dass mit Ihren Texten etwas
verfügbar ist, über das man quasi als Anschauungsmaterial sprechen
kann, in Ablehnung oder in Zustimmung. Was gäbe heute sonst an
vitaler Aufarbeitung, wenn wir ohne Texte wie die Ihren dasitzen
würden?

Handke: Trotzdem: ich habe gegen den Großteil der Medien keine
Chance, und die Medien haben keine Chance gegen mich. Im Grunde ist
es ein völlig sinnloses Gerangel.
In einer Heine-Preisrede hätte ich jetzt wohl noch einmal über den
Unterschied zwischen journalistischer Schreibe und literarischer
Schreibe gesprochen. Darin, wie man die Absätze macht, die
Blickrichtung vorgibt - was lässt man aus, was lässt man vorkommen -
zelebriert die journalistische Schreibe sehr oft eine Vortäuschung
von Natürlichkeit, gegen die das Literarische geradezu künstlich
wirkt. Dabei ist das Literarische, wenn, wie die Franzosen sagen, das
Herz dabei ist, weitaus natürlicher als Ausdrucksform als der
Journalismus.


Handke zu heftigen Vokabeln: "Es ist natürlich auch ein Spiel von
mir, ein zorniges Spiel, aber ohne Hass"

STANDARD: So gemäßigt war das in Ihren Büchern aber kaum jemals zu
lesen. Mit Begriffen wie "Kriegshetzerbräute" greifen Sie bei Ihrer
Kritik an den Medien zu doch relativ heftigen Vokabeln . . .

Handke: "Fernfuchtler" habe ich auch geschrieben, durchaus
nestroywürdig, und für die Journalisten der großen deutschen
Zeitungen, die ich da jahrelang lesen musste, trifft das doch ganz
gut zu. Es ist natürlich auch ein Spiel von mir, ein zorniges Spiel,
aber ohne Hass. Leider aber ab und zu mit ein bisschen zu viel
Verachtung. Das ist wohl nicht gut fürs Schreiben.

STANDARD: Man hat mitunter das Gefühl, dass Sie sich gerne
unbedeutender und "kleiner" sehen, als Sie in Ihrer medialen Präsenz
sind. Sehr schnell wurde Ihnen doch von serbischer Seite eine
Botschafterrolle zugewiesen. Sie selbst beschreiben Reisebegegnungen
in Serbien, Kriegsopfer, sich bei Ihnen bedanken.

Handke: Ja, da ist einer mit uns, haben sich die vielleicht gedacht.
Kein Proserbe, aber er ist einer, der mit den Serben ist. Als ich
etwa im Bombenkrieg in Belgrad war, gab es täglich die großen
Jugendversammlungen auf dem Platz der Republik, und da haben mich
einige erkannt, und ich sollte denen Autogramme geben. Das ist kein
Mich-klein-Machen, aber ich habe das Gefühl gehabt, eigentlich
sollten eher die mir ihre Namen aufschreiben. Dass sie es sind, die
mir etwas geben hätten können. Als dann der Krieg zu Ende war und
die Opposition gegen Milosevic bei den Wahlen gesiegt hat, da haben
wahrscheinlich viele junge Leute, die von mir eine Unterschrift
wollten, gegen Milosevic gestimmt.

STANDARD: Aber läuft man als Person des öffentlichen Interesses, wie
Sie es nun einmal sind, nicht Gefahr, in derart prekärem Terrain
automatisch instrumentalisiert zu werden? Rund um Ihren Besuch beim
Milosevic-Begräbnis ist es durchaus nachvollziehbar, dass Sie
persönlich Augenzeuge eines weiteren Akts eines historischen Dramas
sein wollten, das Sie über Jahre verfolgt und begleitet hatten. Ist
es aber nicht gleichzeitig katastrophal, als "prominenter" Gast
abgelichtet zu werden, gar eine Rede zu halten?

Handke: Da hat mich niemand instrumentalisiert. Die Generäle und das
Publikum da in Pozarevac, die Trauergäste, die haben überhaupt
nichts gemacht.
Sie haben ganz offenkundig ja auch nichts verstanden von dem, was ich
sagte. Die Generäle haben bestenfalls gedacht: was ist denn das für
ein Kümmerling, ein Idiot; und das Volk hat gedacht: Na ja, es war
ein Ausländer. Was sagt denn der? Nix.

STANDARD: Was Sie zum Beispiel sagten: "Die angebliche Welt weiß
alles über Milosevic. Die angebliche Welt kennt die Wahrheit.
Deswegen ist die angebliche Welt heute hier abwesend." Mit solchen
Sätzen sind Sie doch in den internationalen Medien durchaus ausgiebig
zitiert worden.

Handke: Instrumentalisiert wurde ich dann also wohl eher von den West-
Medien - gegeninstrumentalisiert.

STANDARD: Aber als Sie ein paar Jahre vorher von Milosevics
Verteidigern eingeladen wurden, als Zeuge auszusagen beim Tribunal in
Den Haag - was Sie dann ja auch abgelehnt haben -, hatten Sie auch da
nicht das Gefühl, benutzt zu werden mit Ihrem Namen und Ihrer für
viele offenbar missverständlichen Haltung?

Handke: Wie benutzt? Sprechen Sie jetzt von Milosevic? In seinem
Sinne? Ich habe in diesem Sinn doch gar kein benutzbares Wissen. Es
war auch nicht seine Idee, dass ich als Zeuge der Verteidigung
auftreten soll.

STANDARD: Wessen Idee war es denn?

Handke: Ein Rechtsgelehrter aus Belgrad, den ich gut kenne, namens
Branko Radkic, der hat gemeint, ob ich vielleicht etwas sagen könnte.
Ich glaube, Slobodan Milosevic hat mit mir - ich will mich da jetzt
nicht heraus reden - überhaupt nichts anfangen können. Vielleicht
nicht überhaupt nichts, aber wir waren einander fremd. Nicht ganz
fremd, aber eher fremd. Die drei, vier Stunden, als ich bei ihm war,
hat er auf mich eingeredet, als wäre ich ein anderer. Er hat im
Grunde nicht gewusst, wer ich bin.
Ich habe ihn auch gefragt: Was sollte ich denn aussagen? Ich war zwar
im Nato-Krieg zweimal in Jugoslawien, in Serbien, ich habe die
Bombenlöcher, die Splitterbomben gesehen, die Kollateralschäden, die
gebombten Volksschulen gesehen, und ich habe gesehen, wie die Bomben
abgeworfen wurden, nur damit sich die Flugzeuge erleichtern auf dem
Heimflug auf kollaterale Gegenden - was ja überdeutlich war. Ich
habe, sagte ich, gesehen, was viele gesehen haben. Zum Beispiel die
Paramilitärs auf dem Land und dass die absolut unkontrollierbar
waren. Und ich sagte zu Milosevic: "Man spricht viel zu wenig von der
Unkontrollierbarkeit eines Landes im Krieg." Da hat er ein bisschen
aufgehorcht. Das war's. Dann ging ich weg.
So leid es mir tut, ich hatte und ich habe keine Meinung zu Slobodan
Milosevic. Aber es ist mir unerträglich, wie man, vor allem kurz nach
seinem Tod, über ihn geredet hat. "Der Schlächter vom Balkan" , der
"Kriege angezettelt" hat! Der "blutrünstige Killer", "der hat uns mit
seinem Tod den Teppich unter den Füßen weggezogen hat"! Milosevic
war nicht Ceausescu, er war nicht Hitler. Ich weiß nicht, was er war.
Es wäre wichtig für den Frieden, zu wissen, wer er wirklich war.

STANDARD: Srbljanovic sagt zum Beispiel, er sei der Schandfleck am
Gewissen ihres Landes.

Handke: Wenn sie das sagt, dann konzentriert sie in einem riesigen
Fehler alles auf Slobodan Milosevic. Das darf man nicht tun. Ich kann
mich noch erinnern, dass sie mitten im Krieg gegen Jugoslawien, den
man heute in einer scheußlichen Beschönigung "Konflikt im Kosovo"
nennt, einen riesigen Artikel für den Spiegel geschrieben hat, so,
als ob der Krieg nichts wäre. Alles ungefährlich! Da passiert gar
nichts, wir wollen nur unseren Tyrannen los haben, und wir haben auch
eine schöne Zeit, es splittern halt ein paar Fenstergläser.
Das machte sie während dieses Krieges, den Deutschland mit geführt
hat, für ein den Krieg mit führendes Blatt wie den Spiegel. Seitdem,
tut mir leid, verachte ich diese Frau. Seitdem sie mitten im Krieg so
getan hat, als ob kein Krieg wäre. Als ob es ein kleines Abenteuer
wäre, und die Bevölkerung macht sich einen Spaß.
In Belgrad haben sich die Jungen vielleicht zum Teil auch ihren Spaß
gemacht, in dem sie in den Parks übernachtet haben und
Kassettenrekorder gespielt haben, das habe ich ja mitbekommen, aber
das Land kennt Srbljanovic offenbar nicht. Belgrad ist nicht Serbien.
So wie es früher die Jubelperser gab, so gibt es heute wohl die
Parade-Serben, die Berufs-Exjugoslawen.


Ich sagte zu Milosevic: ,Man spricht viel zu wenig von der
Unkontrollierbarkeit eines Landes im Krieg.' Da hat er ein bisschen
aufgehorcht. Das war's. Dann ging ich weg.

STANDARD: All diese dämonisierenden Prädikate für Milosevic, das
Tribunal gegen eine "Bestie" - ist das nicht letztlich auch ein
Versuch gewesen, ein Schrecken mit anderen vergleichbar zu machen, um
ihn vorerst einmal "in den Griff zu kriegen", möglicherweise bis hin
zu einer Stippvisite bei Hannah Arendt und der "Banalität des
Bösen"? Viele Leute, die anders als Sie noch nicht einmal in Serbien
waren, sind wahrscheinlich noch irritierter als Sie. Die können sich
letztlich ja nur verlassen auf das, was ihnen erzählt wird. Zum
Beispiel von Ihnen.

Handke: Auf mich können sie sich verlassen. In dem was ich nicht
weiß, und in dem was ich weiß. Was ich nicht weiß, das sage ich
nicht, was ich ahne, umschreibe ich, und was ich weiß, berichte ich.

STANDARD: Gleichzeitig wird da quasi kollektiv an einem Text
geschrieben, mit dem wir was anfangen, den wir in bewährte
dramatische Erzählungen von Weltpolitik einordnen können sollen. Ein
Königsdrama, bei dem zum Schluss abgerechnet wird. Welche Rolle
würden Sie für sich sich in diesem Stück selbst zuweisen?

Handke: Es ist wohl eher Ihre Arbeit als Journalist oder die eines
anderen Schriftstellers, sich das auszudenken. Und in meinem Stück
Die Fahrt im Einbaum, da bin ich ja schon drin, in dem etwas
besoffenen, ausgebooteten Griechen, der eigentlich nur noch für die
Bäckerzeitung auf dem Peloponnes schreiben darf. Da bin ich schon
drin, und ich bin Elfriede Jelinek wirklich dankbar, dass sie sagt:
dieses Stück, warum spielt man das nicht , warum liest man das nicht?
Da ist alles drin. In Andeutung, aber auch in spielerischer Aggression.
Ich würde aber schon gern noch einmal zurückkommen auf die
historischen Parallelen, die da gegenwärtig beschworen werden. Das
ist ein großer Fehler, finde ich, das behindert auch sehr viel das
Erkennen über Jugoslawien, dass man überall nur Parallelen sucht.
Parallelen kann man höchstens am Ende einer Untersuchung vielleicht
ahnen lassen. Aber sofort mit den Parallelen kommen, das heißt, den
Blick von vornherein blind zu machen. Was heißt das zum Beispiel:
"Diktatur"? Wie der französische Figaro zu Recht gesagt hat - Serbien
war unter Milosevic ein "semiautoritärer" Staat. Und die Zeitungen
waren, so glaube ich sagen zu dürfen - fast völlig frei und das TV
war in staatlicher Hand. Wenn ich mir Frankreich anschaue, wie der
Staat hier organisiert ist, dann ist das kein semi-, das ist ein
dreiviertelautoritärer Staat.
Das alles sollte man einmal beschreiben und dann suchen: Wo sind die
Fehler, wo sind die Irrtümer, die Verbrechen. Und nicht Parallelen,
nicht Vergleiche ziehen. Ich habe einmal, als ich jung war, einen
nicht sehr guten Aufsatz geschrieben, dessen Titel mir aber
bezeichnend erscheint: Das Elend des Vergleichens. Damals ging es um
fatale Vergleiche zwischen Theater und Film, das war eine
Auftragsarbeit und wurde dann etwas banal. Aber das Elend des
Vergleichens, das stimmt für mich immer noch, es behindert jede
Erkenntnis.

STANDARD: "Peter Handke ist als Schriftsteller grandios, den
Nobelpreis sollte er unbedingt erhalten, politisch ist er zum
Vergessen" - Das ist derzeit in der Heine-Preiswürdigkeitsdebatte ein
beliebter Stehsatz. Gibt es eine Lust bei Ihnen zu sagen: Genau um
das geht es mir nicht, dass ich der ewige Virtuose bin. Dass es so
eine Lust gibt, das eigene Image immer wieder anzuschlagen? Etwas wie
der Besuch beim Milosevic-Begräbnis . . .

Handke: Selbstbeschädigung? Nein, das interessiert mich nicht.

STANDARD: Was sagen Sie dann den Leuten, Ihren Lesern, Menschen, die
mit Ihrer Arbeit leben und Sie achten, aber sagen: ich versteh's nicht?

Handke: Also, die wirklichen Leser: Ich glaube nicht, dass die das
nicht verstehen. Wenn sie wirklich lesen, dann ist da nichts nicht zu
verstehen. Was mich hier geleitet hat, war ein epische Wissbegierde,
keine Parteinahme. Übrigens waren - bis auf den schwerkranken Harold
Pinter - alle aus dem internationalen Komitee für die Verteidigung
für Slobodan Milosevic beim Begräbnis dabei. Auch Ramsey Clark, der
ehemalige US-Justizminister.
Der hat ja in Belgrad, als der Leichnam da aufgebahrt war vor dem
Parlament, eine riesige flammende Rede gehalten. Warum wird darüber
nicht berichtet? Vielleicht nimmt man den dermaßen wenig ernst, dass
man das gar nicht mehr vorkommen lässt. Nimmt man einen ehemaligen US-
Justizminister nicht ernst? Mich nimmt man, wie es scheint, auch
nicht ganz ernst, möchte aber mit dem Finger auf mich oder auf das,
was ich gesagt habe, zeigen.

STANDARD: Man nimmt Sie ganz offenkundig sehr ernst.

Handke: Warum nicht Ramsey Clark? Er hat ganz anders gesprochen als
ich: "Das ist ein Verbrechen, man hat ihn umgebracht, Slobodan
Milosevic war unschuldig". Das habe ich nie gesagt, weil ich das
nicht sagen könnte.

STANDARD: Von Kollegen wie Elfriede Jelinek und Botho Strauß wurden
Sie durchaus vehement verteidigt.

Handke: Ach, Strauß. "Der sprachgeladenste Autor", wie er über mich
schrieb, das habe ich nicht ganz verstanden. Auch dass er mich in
einer Reihe mit Carl Schmitt und Ezra Pound sieht. Hier in Frankreich
hat man mich vorher mit Céline verglichen. Dabei lehne ich Céline
ab. Was er über die Juden schrieb, das darf man nicht machen. Ich
lehne auch Ezra Pound ab und Carl Schmitt. Den Ernst Jünger schon
gar, weil der ist nicht mal ein guter Schriftsteller. Das ist ein
krachlederner Schriftsteller, der nichts anschauen kann, ohne zu
einer Schlussforderung zu kommen. Am Ende steht immer: "Da sehen wir
wieder, wie die Welt gebaut ist".
Wen interessiert das? Das ist doch keine Literatur.

STANDARD: Hier, wenn man Sie mit anderen "großen" Dichtern
gleichsetzt, die politisch in Verruf geraten sind, setzt wohl wieder
der tödliche Vergleich ein.

Handke: "Politischer Schriftsteller" - ich weiß überhaupt nicht, was
das ist. Ein Strukturbesserwisser?
Aber wenn man ein bisschen nachschaut, was ich z. B. in den 60er-
Jahren und 70er-Jahren etwa über Tautologien der Justiz geschrieben
habe, in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, über den Umgang mit
den Demonstranten - ich habe mich da wirklich bemüht, ich habe nicht
Deklamation gemacht wie es die 68er meist betrieben haben mit ihren
Sprüchen, sondern ich habe Protokolle der Prozesse gelesen und habe
grammatikalisch analysiert, wie die Richter geredet haben über die
Studenten. Ob das politisch ist oder nicht, ob ich jetzt naiv bin,
jedenfalls war ich von Anfang an aufmerksam, wo ich beteiligt war.

(DER STANDARD, Printausgabe, 10./11./12.6.2006)


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