Varvarin: Keine Gerechtigkeit für serbische Bombenopfer

1) Varvarin-Prozeß: Deutschland muß keinen Schadenersatz wegen NATO-
Angriff 1999 zahlen (von Jürgen Elsässer)
2) Freibrief von Heinz Jürgen Schneider, Mitglied des Anwaltsteams
der Varvariner
3) Offizielle Mitteilung der Pressestelle:
Bundesgerichtshof verneint Ersatzansprüche der Geschädigten des NATO-
Angriffs auf die Brücke von Varvarin gegen die Bundesrepublik
Deutschland

SIEHE AUCH:

SCHARFES ZISCHEN
Haben zivile Kriegsopfer Anspruch auf Schadenersatz?
Der BGH koennte mit seinem Urteil zum NATO-Luftangriff auf Varvarin
Geschichte schreiben.
Von Dietmar Hipp - Der Spiegel 44/2006

https://www.cnj.it/24MARZO99/Spiegel44_06Varvarin.pdf


=== 1 ===

http://www.jungewelt.de/2006/11-03/053.php

03.11.2006 / Inland / Seite 1
Keine Gerechtigkeit für serbische Bombenopfer

Varvarin-Prozeß: Deutschland muß keinen Schadenersatz wegen NATO-
Angriff 1999 zahlen

Von Jürgen Elsässer

Die ganze Republik empört sich, wenn Bundeswehrsoldaten mit alten
Knochen spielen. Doch wenn mit deutscher Hilfe Zivilisten totgebombt
werden, hat das keine Folgen. Wie die Vorinstanzen wies am Donnerstag
auch der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe eine Schadenersatzklage
von 35 serbischen Opfern und Hinterbliebenen gegen den Bund ab. In
dem Revisionsverfahren ging es um den Luftangriff auf die Brücke von
Varvarin vom 30. Mai 1999. Dabei waren zehn Zivilisten getötet und 17
schwer verletzt werden. Historisch bedeutend ist das Verfahren, weil
es die erste Klage wegen einer Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik ist.

Varvarin ist ein Symbol für die Grausamkeit des NATO-Bombenkrieges:
Das Städtchen hatte keinerlei militärische Bedeutung, die
altersschwache Brücke über den Fluß Morava war für Armeetransporte
ungeeignet. Als zwei Kampfbomber diese angriffen, fand direkt daneben
ein Kirchenfest mit über 3000 Besuchern statt. Ein Versehen kann
ausgeschlossen werden: Die Flugzeuge kehrten nach dem ersten Beschuß
zurück und nahmen das Ziel erneut ins Visier ihrer Laserbomben. So
starben auch die Retter, die den Überlebenden hatten zu Hilfe kommen
wollen. Auf ähnliche Weise verloren während des 78tägigen Krieges
2000 jugoslawische Zivilisten ihr Leben.

Die Kläger warfen der Bundesregierung vor, innerhalb der NATO-Gremien
ihr mögliches Vetorecht gegen die Aufnahme der Brücke in die
militärische Zielliste nicht ausgeübt zu haben. Zudem seien deutsche
Tornados durch rückwärtigen Luftraumschutz indirekt beteiligt
gewesen. Der BGH begründete seine Ablehnung damit, daß nicht
einzelnen Personen, sondern nur deren Heimatstaat eine Entschädigung
zustünde. Außerdem habe die Bundeswehr keine konkrete Kenntnis von
der Attacke gehabt. Was die Zielliste für die Bombenflüge angeht,
vertraten die Richter die Auffassung, daß Infrastruktur wie Straßen
oder Brücken nun einmal traditionell dazuzählten. Pech für die
Menschen, die das nicht wußten.


=== 2 ===

http://www.jungewelt.de/2006/11-03/041.php

03.11.2006 / Ansichten / Seite 8
Zum Inhalt dieser Ausgabe |

Gastkommentar: Freibrief

Von Heinz Jürgen Schneider, Mitglied des Anwaltsteams der Varvariner


Am 30. Mai 1999 haben Bundeswehrangehörige sich nicht mit Totenköpfen
fotografieren lassen. Beim Angriff auf die Brücke von Varvarin im
Kosovo-Krieg waren sie Teil der NATO-Angreifer und produzierten Leichen.

Über Jahre klagten die serbischen Opfer vor deutschen Gerichten auf
Entschädigung und klagten damit auch die BRD an. Am Donnerstag hat
der Bundesgerichtshof(BGH) in letzter Instanz die Ansprüche
abgewiesen. Eine Verfassungsbeschwerde bleibt aber möglich. Schon
1999 waren Strafanzeigen gegen die Berliner Spitzenpolitiker wegen
Führung eines Angriffskrieges erfolglos. Sieben Jahre danach soll
auch an der zivilrechtlichen Front Ruhe einkehren.

Der BGH hat nicht – wie im Spiegel spekuliert wurde – generell für
Opfer von Kriegsverbrechen unter Bundeswehrbeteiligung den Rechtsweg
zu deutschen Gerichten geöffnet. Diese Möglichkeit zu
Staatshaftungsklagen wurde vielmehr ausdrücklich offengelassen.
Kommandeure robuster Militärmissionen und die Juristen des
Bundesverteidigungsministeriums wird es freuen.

Die konkrete Klageabweisung hat mit der Realität des Krieges von 1999
wenig zu tun. Ohne eine einzige Beweisaufnahme in drei
Gerichtsinstanzen bauen die Karlsruher Richter ihre eigene
militärische Welt. In diesem Krieg ist die Bundeswehr nur wenig
informiert, kaum beteiligt und deshalb auch für die Toten von
Varvarin nicht haftbar.

Die Wahrheit war anders und ist in den Schriftsätzen der Kläger auch
unter Beweis gestellt. Berlin war ein aktiver politisch-
diplomatischer Kriegstreiber. Ein mögliches Veto gegen Ziele war
möglich, unterblieb aber. Angriffskoordination und Zielauswahl fanden
mit Beteiligung deutscher Offiziere statt. Am Angriffstag waren
Tornados im Luftraum nahe Varvarin. Während des Krieges flogen sie
über 500 Angriffe und verschossen 236 Raketen.

Die Bundeswehr war ein wichtiges Rad in dieser Kriegsmaschine.
Deshalb ist sie haftbar, egal, welche NATO-Piloten die Raketen
konkret ausgeklinkt haben. Juristisch nennt man dies eine
»gesamtschuldnerische Haftung«. Der BGH aber sagt,
»Amtspflichtverletzungen deutscher Soldaten oder Dienststellen«
liegen nicht vor.

Wie ein Freibrief des Gerichts für die Zukunft lesen sich Passagen
über einen umfangreichen und gerichtlich nicht nachprüfbaren
Beurteilungsspielraum der Militärs bei der Zielauswahl von
Angriffsobjekten. Zu diesen sollen »traditionell« auch Straßen,
Brücken und Eisenbahnen gehören. Im vor fast 30 Jahren
verabschiedeten Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention ist die Wertung
anders: Über 30 Artikel schützen Zivilisten und unverteidigte Orte,
Kriegshandlungen dürfen sich nur gegen militärische Ziele richten.
Varvarin war unverteidigt, die Brücke unbedeutend, alle Toten
Zivilisten.


=== 3 ===

Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

Nr. 151/2006

Bundesgerichtshof verneint Ersatzansprüche der Geschädigten
des NATO-Angriffs auf die Brücke von Varvarin gegen die
Bundesrepublik Deutschland

Aufgrund eines entsprechenden Beschlusses der Mitgliedstaaten
der NATO führte diese ab dem 24. März 1999 mit dem erklärten Ziel, in
dem damaligen Jugoslawien eine drohende humanitäre Katastrophe
infolge des Kosovo-Konflikts zu verhindern, Luftoperationen gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien durch. An diesen Operationen beteiligten
sich mit Zustimmung des Deutschen Bundestages auch deutsche
Luftstreitkräfte. Am 30. Mai 1999 griffen Kampfflugzeuge der NATO die
am Ortsausgang der serbischen Kleinstadt Varvarin etwa 180 km
südöstlich von Belgrad - über den Fluss Morava führende Brücke mit
Raketen an und zerstörten sie. Hierbei wurden zehn Menschen getötet
und 30 verletzt, davon 17 schwer; bei sämtlichen Opfern handelt es
sich um Zivilpersonen. Kampfflugzeuge der Bundesrepublik Deutschland
waren an dem Beschuss der Brücke nicht unmittelbar beteiligt. Ob und
inwieweit die deutschen Luftstreitkräfte Unterstützungsleistungen
erbracht haben, ist streitig, ebenso, in wel
cher Form deutsche Dienststellen an der vorausgegangenen Auswahl der
Ziele der Luftangriffe beteiligt waren.

Die insgesamt 35, teilweise in Erbengemeinschaften
verbundenen - Kläger, Staatsangehörige des früheren Jugoslawiens,
haben die beklagte Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz in
zweiter Instanz begrenzt auf billige Entschädigung in Geld für
immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) - wegen der Tötung von
Angehörigen und eigener erlittener Verletzungen in Anspruch genommen.
Sie haben geltend gemacht, die Beklagte hafte für die Folgen des von
NATO-Streitkräften durchgeführten Angriffs auf die Brücke aufgrund
der Verletzung humanitären Völkerrechts und auch nach den Grundsätzen
des deutschen Amtshaftungsrechts. Sie haben der Beklagten
vorgeworfen, im Rahmen der NATO das ihr mögliche Vetorecht gegen die
Auswahl der Brücke von Varvarin als militärisches Ziel nicht ausgeübt
und zudem den Angriff selbst durch grundsätzliche Zusage und
Übernahme von Aufklärung, Begleitschutz und Luftraumschutz
unterstützt zu haben.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und das
Oberlandesgericht die hiergegen gerichtete Berufung der Kläger
zurückgewiesen. Dieses Urteil haben die Kläger mit ihrer vom
Oberlandesgericht zugelassenen - Revision angegriffen.

Der unter anderem für das Amtshaftungsrecht zuständige III.
Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision der Kläger
zurückgewiesen.

Ein Schadensersatzanspruch der Kläger gegen die Bundesrepublik
Deutschland auf einer völkerrechtlichen Grundlage scheidet schon
deshalb aus, weil im Falle von Verletzungen des Kriegsvölkerrechts
etwaige völkerrechtliche Wiedergutmachungsansprüche gegen den
verantwortlichen fremden Staat nicht einzelnen geschädigten Personen,
sondern nur deren Heimatstaat zustehen. Diese völkerrechtliche Lage,
von der der Bundesgerichtshof für die Zeit bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs bereits in einem früheren Urteil (Distomo-Entscheidung)
ausgegangen ist, besteht auch heute noch insbesondere im Hinblick
auf Art. 91 des ersten Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu dem
Genfer Abkommen vom 12. August 1949 - weiter. Mangels einer
völkerrechtlichen Anspruchsberechtigung der Kläger stellt sich auch
nicht die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen
eine (Mit)Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland für ein
etwaiges völkerrechtliches Delikt, unabhängig von u
nerlaubten Handlungen oder Unterlassungen der eigenen Bediensteten,
schon allein aus der Beteiligung an der NATO-Operation im Kosovo-
Konflikt in Betracht kommt.

Auch einen Schadensersatzanspruch der Kläger gegen die
Beklagte aus nationalem (deutschem) Recht hat der Bundesgerichtshof
verneint. Als Anspruchsgrundlage für einen solchen Anspruch kommt
allein das Institut der Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) in
Betracht. In der Distomo-Entscheidung hatte der Bundesgerichtshof
ausgesprochen, dass nach dem Verständnis des Amtshaftungsrechts bis
zum Ende des Zweiten Weltkriegs militärische Kriegshandlungen im
Ausland vom Amtshaftungstatbestand ausgenommen waren. Ob hieran auch
nach Inkrafttreten des Grundgesetzes festzuhalten ist, hat der
Bundesgerichtshof in dem vorliegenden Urteil offen gelassen.

Ein hierauf gestützter Schadensersatzanspruch der Kläger gegen
die Bundesrepublik Deutschland scheitert im Streitfall jedenfalls
daran, dass im Zusammenhang mit dem Angriff gegen die Brücke von
Varvarin keine Amtspflichtverletzungen deutscher Soldaten oder
Dienststellen im Sinne konkreter (schuldhafter) Verstöße gegen
Regeln des humanitären (Kriegs-)Völkerrechts zum Schutz der
Zivilbevölkerung - vorliegen. Da die deutschen Luftstreitkräfte an
dem Kampfeinsatz gegen die Brücke von Varvarin nicht unmittelbar
beteiligt waren, könnten ihnen etwaige Völkerrechtsverstöße bei
diesem Kampfeinsatz selbst wenn er in objektiver Hinsicht
Unterstützung durch von deutscher Seite gewährten Luftraumschutz
gefunden haben sollte - allenfalls dann unter dem Gesichtspunkt einer
Amtspflichtverletzung zugerechnet werden, wenn die deutschen
Dienststellen über das konkrete Angriffsziel und Einzelheiten des
betreffenden Luftangriffs informiert gewesen wären. Dafür gibt es
keine Anh
altspunkte. Dass die deutschen Dienststellen hierüber keine
Informationen hatten, kann ihnen ausgehend von dem nach dem
unwiderlegten Vortrag der Beklagte bei der gesamten NATO-Operation
praktizierten Grundsatz "need to know" nicht vorgeworfen werden;
danach verfügten die beteiligten Mitgliedsstaaten nur über diejenigen
Informationen, die sie für ihre eigene Beteiligung an der jeweiligen
konkreten Operation benötigten.

Eine Pflichtverletzung deutscher Dienststellen liegt auch
nicht darin, dass diese – legt man den Vortrag der Kläger zugrunde -
vorher daran mitgewirkt haben, dass die Brücke von Varvarin in eine
Zielliste der Luftoperationen der NATO aufgenommen worden war. Der
Bundesgerichtshof ist dem Berufungsgericht darin beigetreten, dass
den militärischen Dienststellen bei ihren Entscheidungen für eine
militärische Operation oder im Rahmen derselben ein umfangreicher,
gerichtlich nicht nachprüfbarer, Beurteilungsspielraum zusteht. Es
ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht diesen
Beurteilungsspielraum erst bei völliger Unvertretbarkeit oder
eindeutiger Völkerrechtswidrigkeit der betreffenden militärischen
Entscheidung als überschritten ansieht. Das Berufungsgericht hat in
rechtsfehlerfreier tatrichterlicher Würdigung angenommen, dass diese
Schwelle im Zusammenhang mit der von den Klägern behaupteten -
Billigung der Aufnahme der Brücke von Varvarin in die Zielli
ste der NATO-Operationen durch die Beklagte nicht überschritten
worden ist. Diese tatrichterliche Würdigung lag schon deshalb nahe,
weil zu den militärischen Zielen traditionell unter anderem die
Infrastruktur wie Straßen, Eisenbahnen, Brücken,
Fernmeldeeinrichtungen gezählt wird. Das konnte für eine Aufnahme in
die Zielliste ausreichen, selbst wenn die Entscheidung zu einem
militärischen Angriff letztlich nur unter der Voraussetzung hätte
erfolgen dürfen, dass die Zerstörung der Brücke (zu diesem Zeitpunkt)
einen eindeutigen militärischen Vorteil mit sich brachte.
Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht ausgeführt, die Beklagte
habe bei ihrer Zustimmung zur Zielauswahl darauf vertrauen dürfen,
dass ein etwaiger Angriff unter Beachtung des Völkerrechts erfolgen
werde.

Urteil vom 2. November 2006 III ZR 190/05

OLG Köln, Urteil vom 28. Juli 2005 - 7 U 8/04

LG Bonn, Urteil vom 10. Dezember 2003 - 1 O 361/02

Karlsruhe, den 2. November 2006

Pressestelle des Bundesgerichtshof
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501