Orientierungshilfe
Wie die SWP in einem kürzlich publizierten Strategiepapier verlangt, soll die EU ihre Einflussarbeit in Südosteuropa deutlich ausbauen. Dies gelte vor allem für den Westen der Region ("Westbalkan"): für Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Makedonien, Montenegro und Serbien inklusive der Provinz Kosovo, die von 22 Mitgliedsländern der EU als "Staat" bezeichnet wird. Die SWP hat die Südosteuropa-Reise von US-Vizepräsident Joseph Biden im Mai sorgfältig beobachtet und rechnet mit verstärkten Aktivitäten Washingtons in dem Gebiet. Brüssel dürfe "nicht zulassen, dass dieser Raum" als "Vorhof" der Vereinigten Staaten betrachtet werde, heißt es in dem Strategiepapier. "Der Westbalkan" könne "nicht anders als ein zukünftiger Teil der EU behandelt werden", verlangt der Autor. Um den deutsch-europäischen Hegemonialanspruch zu verdeutlichen, müssten umgehend sämtliche Staaten der Region zu EU-Beitrittskandidaten erklärt werden. Dies gelte insbesondere auch für den größten und bevölkerungsreichsten von ihnen, Serbien. Dabei diene die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft laut dem Brüsseler Erweiterungskommissar Olli Rehn als "Kompass, der den Ländern in der Region hilft, sich zu orientieren".[1]
Erstarkt und entschlossen
Zugleich plädiert die SWP für einen Kurswechsel in der deutsch-europäischen Südosteuropapolitik mit Blick auf Russland. Wie es in dem Strategiepapier heißt, ist Moskau erstarkt und "wirtschaftlich in der Lage", "als Führungsmacht in diese Gebiete zurückzukehren".[2] Dazu sei es "politisch auch entschlossen". Berlin und Brüssel dürften das russische Störpotenzial nicht ignorieren: Maßnahmen der EU drohten "verhindert oder zumindest stark beeinträchtigt" zu werden, wenn man "Russlands Möglichkeiten, die politischen Abläufe dort mitzubestimmen, übersehe". Der Westen habe bislang "auf das Nachgeben oder schlicht das Unvermögen Moskaus gesetzt, Alternativen zu erzwingen". Wie die Weigerung Russlands, die Sezession des Kosovo anzuerkennen, beweise, könne heute aber nicht mehr "erwartet werden, dass sich Moskau den Vorgaben der USA immerzu anschließen wird".
South Stream
Die Vorschläge der SWP für die deutsch-europäische Südosteuropapolitik laufen darauf hinaus, Russland punktuell einzubinden und damit den Einfluss der USA zu schmälern. "Die EU sollte es sich (...) zur Aufgabe machen", heißt es in dem Papier, "Russland so umfassend wie möglich in die Gestaltung der politischen Entwicklung des Westbalkans einzubeziehen."[3] Der Autor spricht sich zu diesem Zweck für "die Verwirklichung des Projekts South Stream" aus. "South Stream" ist ein italienisch-russisches Pipelineprojekt, das in zwei Röhrensträngen Erdgas aus dem russischen Teil des Kaukasus nach Nord- und Süditalien führen soll und dabei mehrere südosteuropäische Staaten kreuzt. In Südosteuropa genießt das Projekt, das als Gegenstück zur deutsch-russischen Pipeline "Nord Stream" gilt, erhebliche Sympathie. "Für die Festigung der politischen Kooperation zwischen der EU und Russland im Westbalkan" wäre seine Realisierung "von Vorteil", heißt es bei der SWP.
Staatenkette
Die Einbindung Russlands in Südosteuropa ist der SWP zufolge nicht nur unumgänglich - so sei Serbien wegen seiner Weigerung, die Sezession des Kosovo anzuerkennen, ebenso an Moskau gebunden wie Montenegro, dessen Wirtschaft sich heute "fest in russischer Hand" befinde.[4] Die Einbindung Russlands sei allerdings inzwischen auch ohne Schaden möglich. Seitdem sich "eine ununterbrochene Kette von Staaten zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer der NATO angeschlossen hat, steht fest, dass Moskau nicht mehr damit rechnen kann, seine militärische Macht bis zum Adriatischen Meer zu projizieren", urteilt die SWP. Es scheint Berlin daher möglich, beruhigt und mit klarem Nutzen zu einer neuen Phase der Kooperation überzugehen und mit Moskau auf dem Energiesektor zusammenzuarbeiten, ohne ernsthafte russische Hegemonialbestrebungen befürchten zu müssen.
Westliche Hegemonie
Zu den Ausflüssen der geostrategischen Hegemonialkämpfe zwischen dem Westen und Russland, die das SWP-Papier beleuchtet, gehören auch der Krieg gegen Jugoslawien und die Besetzung des Kosovo inklusive des Sezessionsversuchs im vergangenen Jahr. Die Folgen der Inbesitznahme der Provinz durch den Westen, die unter anderem Moskau noch weiter zurückdrängen sollte, beleuchten einmal mehr aktuelle Berichte von Menschenrechtsorganisationen. Demnach stagniert nicht nur die Arbeitslosigkeit bei geschätzten 40 bis 60 Prozent, weshalb fast die Hälfte aller jungen Kosovaren zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit im Ausland bereit sind.[5] Auch die Lage der Minderheiten ist nach wie vor katastrophal. Besonders betroffen sind Roma, deren Lebensverhältnisse sich unter der Herrschaft des Westens dramatisch verschlechtert haben.
Kein Thema
Erst kürzlich hat etwa Human Rights Watch darauf hingewiesen, dass die westlichen Besatzer seit zehn Jahren Hunderte Roma in bleiverseuchten Lagern unterbringen. Wie die Organisation schreibt, sind davon zahlreiche Bewohner eines Roma-Viertels in Mitrovica betroffen, das im Juni 1999 von Kosovo-Albanern geplündert und gänzlich niedergebrannt wurde. Rund 8.000 Menschen mussten damals fliehen. Viele von ihnen wurden von den westlichen Besatzern in Lager auf einem stark mit Blei kontaminierten Gelände gebracht. "Dieser Umzug sollte ursprünglich nur eine Zwischenlösung sein", berichtet Human Rights Watch.[6] Die hohe toxische Belastung wurde erstmals im Jahr 2000 dokumentiert, besonders Kinder sind gefährdet. Dennoch vegetieren bis heute fast 700 Roma in den verseuchten Lagern. Für den Westen ist ihre Lage bis heute kein Thema.