Die Medien und der Krieg
Beim Angriff auf Jugoslawien 1999 marschierten Journalisten im
Gleichschritt mit den NATO-Aggressoren.
Diese Parteinahme hält bis heute an
Eckart Spoo
Als im Frühjahr 1999 die ersten NATO-Bomben auf Serbien fielen,
geschah es in Hannover, daß ein junger Patient der Medizinischen
Hochschule es ablehnte, von Frau Dr. Ljiljana Verner behandelt zu
werden. Seine Begründung: Die Oberärztin habe selbst zugegeben,
Serbin zu sein.
So erging es Serben am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutschland
schon zweimal Serbien überfallen hatte und nun an einem dritten
Angriffskrieg gegen dieses Land teilnahm.
Im Mai 2006 fanden im deutsch-niederländischen Grenzgebiet wie
alljährlich gemeinsame Veranstaltungen zum Gedenken an die Schrecken
des Zweiten Weltkrieges und zur Mahnung für den Frieden statt,
inspiriert von dem Komitee »Nooit meer – Nie wieder«. Dessen
Hauptgründer auf deutscher Seite war der evangelische Pfarrer Koch
(Emlichheim) gewesen, der im Widerstand gegen das Naziregime gekämpft
und im KZ gelitten hatte. Diesmal war als Rednerin Ljiljana Verner
eingeladen, und es sollte eine Fotoausstellung gezeigt werden, die
ein Kriegsverbrechen dokumentiert: die Zerstörung der Brücke von
Varvarin (Zentralserbien) durch NATO-Bomber am Pfingstsonntag 1999.
Die Ausstellung wurde vom Bürgermeister der niederländischen Gemeinde
Dinkelland abgesagt, und die deutsche Nachbarstadt Nordhorn beeilte
sich, dem Komitee »Nooit meer – Nie wieder« die Unterstützung zu
entziehen. Von den Opfern des NATO-Kriegs zu sprechen, erschien den
tonangebenden Kommunalpolitikern als unvereinbar mit dem Gedenken an
die Opfer des Zweiten Weltkriegs.
Und daß ausgerechnet Ljiljana Verner eingeladen worden war! Die
Serbin! Haben wir es etwa nötig, auch einmal die Gegenseite zu Wort
kommen zu lassen! Darüber empörte sich die Nordhorner Stadtverwaltung
und warf »Nooit meer – Nie wieder« allen Ernstes »Einseitigkeit« vor.
Eine Provinzposse? Nein, herrschende Meinung: Die Gegenseite, die
Seite der Opfer, muß ausgeblendet werden. So war es in den ersten
Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, bis endlich in den 1990er
Jahren die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zeigte, was
50 Jahre zuvor in Serbien geschehen war. Und so ist es jetzt wieder
seit dem NATO-Krieg gegen Serbien. Wenn wir die Gegenseite zu Wort
kommen ließen, würde unsere schöne Selbstgerechtigkeit gestört. Über
die Kriegsverbrechen der NATO – und der Angriffskrieg selbst war das
Hauptverbrechen – muß eisern geschwiegen werden. Mit Serben zu reden,
sind wir allenfalls bereit, wenn sie sich der Siegerjustiz demütig
unterwerfen. Sie haben selbst im eigenen Land nicht mehr viel zu
sagen. Die dortige Presse ist weitgehend von deutschen Konzernen
übernommen worden. Realität ausgeblendet Man darf sich die
Kommunalpolitiker in Dinkelland und Nordhorn nicht als ungewöhnlich
beschränkt vorstellen. Ebensowenig die christlich-, frei-,
sozialdemokratischen und grünen Stadträte in Düsseldorf, die Peter
Handke als Heinrich-Heine-Preisträger ablehnten und rüde
beschimpften. Sie fühlten sich offenbar geradezu moralisch
verpflichtet, Düsseldorf und ganz Deutschland vor der Gefahr zu
schützen, daß plötzlich nicht mehr gilt, was bisher gegolten hat.
Darf denn ein Schriftsteller daherkommen und Zweifel daran säen, daß
die Serben urböse und wir Deutschen im Recht sind? Dürfen
verantwortungsbewußte Politiker staatstragender Parteien zulassen,
daß am Ende womöglich wir selber als Mitschuldige am Verbrechen eines
Angriffskriegs dastehen? Diese braven Grünen, Frei-, Sozial- und
Christdemokraten haben vermutlich einfach geglaubt, was sie auf dem
Bildschirm gesehen, im Radio gehört, in Zeitungen gelesen haben, sie
haben es für wahr gehalten, haben sich darauf verlassen und wollen
sich weiterhin darauf verlassen können. Dann liegt das Problem aber
nicht bei diesen Kommunalpolitikern, sondern bei den tonangebenden
Medien, die immer im Gleichschritt mit der Bundesregierung und der
NATO marschiert sind.
Als Rolf Becker und ich mit der Gewerkschaftergruppe »Dialog von
unten statt Bomben von oben« im Frühjahr 1999 während des
Bombenkriegs der NATO gegen Jugoslawien durch das angegriffene Land
reisten, selbst einige Bombardements erlebten und viele unvergeßliche
Begegnungen hatten, trafen wir in Belgrad auch den damaligen
Korrespondenten der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten
Deutschlands (ARD), Klaus Below. Man hätte annehmen müssen, daß er in
jenen Kriegswochen täglich auf dem Bildschirm erschienen wäre, um das
deutsche Fernsehpublikum zu informieren; doch gerade damals
verschwand er vom Bildschirm. Seine Berichte, so erfuhren wir von
ihm, wurden unterdrückt – nicht von jugoslawischer Seite, sondern von
den ARD-Verantwortlichen. Was er in Jugoslawien mit eigenen Augen
sah, paßte nicht in das Bild, das die NATO-Propaganda vermittelte.
Die öffentliche Meinung in den NATO-Ländern wurde damals fast
ausschließlich von der NATO gemacht, von den Regierungen der NATO-
Länder und vom damaligen Pressesprecher der NATO, Jamie Shea, der
später recht offen und sehr zynisch in einem Buch geschildert hat,
wie er damals für die rechte Kriegsstimmung sorgte – mit erfundenen
Geschichten und flotten Sprüchen. Realistische Kriegsdarstellungen
des ARD-Korrespondenten Below hätten da nur gestört. Unsere Gruppe
versuchte selbst mit äußerst geringem Erfolg, durch tägliche
Berichte, die wir deutschen Nachrichtenagenturen und Zeitungen
schickten, die Wirklichkeit dieses Krieges bekanntzumachen. Ähnlich
erging es Peter Handke, der damals und auch vorher und nachher zu den
wenigen gehörte, die sich an Ort und Stelle umsahen und umhörten.
Lügenpropaganda Die NATO bombardierte in Serbien neben
Chemiefabriken, Kraftwerken, Schulen, Krankenhäusern, Wohngebieten,
Eisenbahn- und Straßenbrücken auch Rundfunksender –
völkerrechtswidrig. Weil das serbische Fernsehen, in dessen Zentrale
bei einem nächtlichen Bombenangriff 16 Kollegen getötet wurden,
weiterhin Fotos und Filme von den Kriegszerstörungen ausstrahlte –
Zerstörungen, die es laut NATO-Propaganda nicht gab, allenfalls
sogenannte Kollateralschäden wurden zugegeben –, erwirkte der
damalige deutsche Außenminister Fischer bei der Eutelsat-Zentrale in
London die Abschaltung der Satellitenübertragung. Das Fernsehpublikum
in Deutschland und aller Welt sollte nicht erfahren, was die NATO in
Serbien anrichtete. Glatte Zensur! Verfassungswidrig!
Zensur und systematischer Mißbrauch der Medien zu Propagandazwecken
sind mit demokratischen Prinzipien unvereinbar. Was damals geschehen
ist – und dazu gehörte auch das Mikrofonverbot für einen
südwestdeutschen Rundfunkkollegen, der zutreffend den Krieg der NATO
gegen Jugoslawien einen Angriffskrieg genannt hatte –, muß endlich
aufgearbeitet werden. Es gab Ansätze dazu. So strahlte der
Westdeutsche Rundfunk (WDR) anderthalb Jahre nach dem Krieg eine
wohlrecherchierte Sendung unter dem Titel »Es begann mit einer Lüge«
aus. Der damalige Bundesverteidigungsminister Scharping wurde in
dieser Sendung mit mehreren krassen Lügen konfrontiert, mit denen er
versucht hatte, den Krieg zu rechtfertigen. Zum Beispiel hatte er
behauptet, »die Serben« hätten aus dem Stadion von Pristina ein KZ
gemacht. Daran war nichts Wahres. Peinlich für Scharping, peinlich
für alle, die solche Behauptungen kritiklos übernommen und
weiterverbreitet hatten. Politiker der damaligen Regierungskoalition
gingen mit Verleumdungen gegen die Sendung vor, an der aber nicht das
Geringste zu beanstanden war. Die Kunst des Fragens In der
Berichterstattung über jedweden Konflikt müßten Journalistinnen und
Journalisten auf nichts so sehr bedacht sein wie darauf, daß beide
Seiten zu Wort kommen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber
gerade in Kriegszeiten und schon in den Zeiten der Vorbereitung von
Kriegen, also dann, wenn es am meisten darauf ankommt, vergessen die
Journalisten das Gelernte, sammeln sich unter der Fahne und machen
Propaganda; viele merken nicht einmal, wozu sie sich hergeben – so
stark ist der Erwartungsdruck, unter dem sie arbeiten.
Die Justiz kennt seit vielen Jahrhunderten den Grundsatz, daß kein
gerechtes Urteil gefällt werden kann, ehe nicht beiden Seiten Gehör
gegeben wurde. Auch der Souverän in der Demokratie kann sich kein
zutreffendes Urteil bilden, wenn er nur einseitig informiert ist. Aus
den Erfahrungen in Jugoslawien habe ich den Schluß gezogen, daß
Journalisten (ich meine solche, die überhaupt selbst recherchieren,
das sind nicht viele) den offiziellen Angaben grundsätzlich nicht
trauen dürfen, vor allem nicht den Angaben der eigenen
beziehungsweise befreundeten Seite – im Zweifelsfall eher den Angaben
der anderen Seite. Deren Darstellung hat zumindest den Wert, daß sie
uns kritikfähig gegenüber der Darstellung der eigenen Seite machen
kann. Die Gefahr, aus Leichtgläubigkeit mitschuldig zu werden,
besteht in der Regel nur auf der eigenen Seite. Die wichtigste
Wahrheit in einem militärischen Konflikt ist ohnehin immer die über
den Gegner, zum Beispiel über seine Motive und seine Stärke.
»Embedded journalists«, wie die US-Streitkräfte sie im jüngsten Irak-
Krieg auf Panzern mitfahren ließen, erfahren von dieser wichtigsten
Wahrheit nichts.
Während des Bombenkriegs gegen Jugoslawien und schon lange vorher kam
Slobodan Milosevic, der demokratisch gewählte Staatspräsident
Serbiens und Jugoslawiens, in den deutschen Medien niemals im
Originalton zu Wort. Der Prozeß gegen ihn in Den Haag hätte
Gelegenheit zur Wahrheitsfindung geben können, aber unsere
Wahrnehmungsschwäche hielt an. Berichtet wurde immer wieder, die
Chefanklägerin Carla del Ponte verfüge nunmehr über Beweise für die
Schuld Milosevics. Wie sie dann im Verhandlungssaal mit ihren
angeblichen Beweisen regelmäßig scheiterte, interessierte anscheinend
nicht. Der Prozeß endete mit dem Tod des Angeklagten, nicht mit einem
Schuldspruch, zu dem es nur unter Verdrehung der Fakten hätte kommen
können.
Weil Milosevic nicht verurteilt wurde, muß er nach einem
unaufgebbaren Rechtsprinzip als unschuldig gelten. Doch das Feindbild
»die Serben« steckt fest im deutschen Schädel – seit Generationen.
»Die Serben« sind Täter und müssen mit Sanktionen belegt werden. Sie
müssen schuld gewesen sein an den Kriegen, die wir gegen sie geführt
haben. Namentlich Milosevic. Frage ich nach, fällt allen dasselbe
Stichwort ein: Srebrenica. Was dort geschah? Was vorausgegangen war?
Was Milosevic damit zu tun hatte (nämlich gar nichts)? Das wollen sie
nicht so genau wissen. Und Kragujevac? Das interessiert schon gar
nicht. Bei diesem größten Massaker auf dem Balkan während des Zweiten
Weltkriegs (7000 Tote) waren Deutsche die Täter gewesen. Das wissen
wir nicht und wollen es nicht wissen. 1999 zerbombte die NATO fast
alle 50000 industriellen Arbeitsplätze in Kragujevac und beschädigte
auch die Gedenkstätte am Ort des Massakers von 1941. Nein, das müssen
wir nicht wissen. Kragujevac kennen wir nicht. Uns genügt Srebrenica.
Keine weiteren Fragen.
Peter Handke hat in den Auseinandersetzungen der letzten Wochen an
uns alle appelliert: »Lernen wir die Kunst des Fragens.« In der
Pariser Libération vom 10. Mai hat er davor gewarnt, über Jugoslawien
mit »ausschließlich präfabrizierten Worten, unendlich oft wiederholt,
gebraucht wie automatische Waffen« zu sprechen und zu schreiben. »Als
Einzelner«, so kommentierte am 31. Mai Cornelia Niedermeier im Wiener
Standard, »als Einzelner verteidigt er den Willen zum eigenen Blick
gegen den entliehenen Massenblick der Medien«.
Verantwortungsbewußte Journalisten sollten das als eine
Herausforderung begreifen. Peter Handke, auch und gerade mit seinen
Büchern über Serbien, fordert die Medien in den NATO-Ländern, nicht
zuletzt in Deutschland, zum Nachdenken über ihre Rolle heraus – und
nicht nur die Medien als Apparate, sondern jeden einzelnen Journalisten.
Die Kunst des Fragens wird täglich gebraucht. Nur der eigene Blick
kann uns davor bewahren, in immer neue Katastrophen hineingezogen zu
werden. Mit tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern müssen wir
reden, wenn wir neue Kriege vermeiden wollen. Mundtot gemacht Wo
Regierungen aufhören, den friedlichen Interessenausgleich zu suchen,
wo sie aufhören zu verhandeln, wo sie alle Kommunikation abbrechen
und wo die tonangebenden Medien die Gegenseite nur noch verteufeln
(Milosevic, »der Diktator«, »der Schlächter«, »der neue Hitler«), da
ist Krieg nicht fern. Wenn mit der Hamas, der demokratisch gewählten
Regierungspartei der Palästinenser, nicht gesprochen werden darf,
droht die physische Vernichtung der Palästinenser. Ähnlich
beängstigend ist es, daß die westliche Welt sich darauf festgelegt
hat, nicht mit dem gewählten Präsidenten von Belarus, Alexander
Lukaschenko, und anderen Vertretern des Landes zu sprechen. Im Mai
fand in Berlin ein Europäisches Friedensforum statt; der Vertreter
der Friedensbewegung von Belarus mußte fernbleiben, weil ihm
Deutschland das Visum versagte. Völker werden mundtot gemacht, bevor
sie Opfer von Bomben werden. Und die Überlebenden müssen mundtot
bleiben, damit die Täter nicht an ihre Verbrechen erinnert werden.
Mitte Juni führte die Neue Zürcher Zeitung ein ausführliches
Interview mit Peter Handke, nachdem er in Deutschland schon fast zur
Unperson geworden war. Zum Schäbigsten, was ich hierzulande
gelegentlich über ihn las, gehörten Sätze von der Art, daß er zwar
kein schlechter Schreiber sei, aber eben einen »Spleen« habe, den
»Jugoslawien-Spleen« (Frankfurter Rundschau). Das sollte einfach
heißen: Handke sei nicht ernst zu nehmen. Aber der Autor läßt sich
nicht von seinem Thema trennen. So kommen wir nicht davon. So können
wir uns der Herausforderung dieses Mannes nicht entziehen.
In einer Pressekonferenz im Berliner Theater am Schiffbauerdamm, in
der über den Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke
informiert wurde, sagte die Initiatorin Käthe Reichel drastisch-
sarkastisch: »Keine Meinungsfreiheit, zumindest für Handke, wenn er
von Deutschland – das immer noch mit Auschwitz am Hals belastete –
erwartet, ›daß man Milosevic bitte nicht mit Hitler vergleichen‹
möge. Das ist aber zuviel verlangt. Das geht nicht. Wenn Deutschlands
Volk nicht lernt, Milosevic mit Hitler zu vergleichen, dann versteht
es die Bomben aus Deutschland auf Frauen und Kinder in Belgrad nicht
… Die Wahrheit ist dem Krieg nicht zumutbar. An ihr muß er verrecken.
Darum wünschte sich dieser Krieg, daß die Deutschen vergessen sollen,
daß die Serben sich selbst von Hitler befreit haben. An den Krieg
gegen Hitler soll man in Deutschland sich nicht mehr erinnern –
jetzt, wo Auschwitz nicht mehr in Auschwitz liegt, sondern in Serbien
und, was noch toller ist, das ganze Deutschland am Hindukusch liegt
und künftig in der ganzen Welt.«
Ein 08/15-Journalist meinte prompt, den Berliner Heinrich-Heine-
Preis, dessen Geldbetrag nach Handkes Wunsch dazu verwendet werden
soll, auf die Situation der Serben in den letzen Enklaven im Kosovo
aufmerksam zu machen, in »Milosevic-Preis« umbenennen zu sollen.
Käthe Reichel antwortete schlagfertig: »Hitler-Preis. Eigentlich
wollten Sie doch sagen: Hitler-Preis.«
Der Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm, Claus Peymann,
Mitunterzeichner des Aufrufs für den Preis, erhielt inzwischen »Sieg
Heil«-Zuschriften. Anfang 2007 wird dort ein neues Stück von Peter
Handke uraufgeführt werden.
Eckart Spoo ist verantwortlicher Redakteur von Ossietzky.
Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft. Den Artikel
entnahmen dem aktuellen Heft (Nr. 14) der Zeitschrift (Einzelpreis
2,50 Euro, Bestellungen an ossietzky @ interdruck.net)
Wir danken der Redaktion Ossietzky für die freundliche Genehmigung
zum Nachdruck
Dokumentiert: »Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke«
"Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke"
»...und es fehlt nicht an gelehrten Hunden, die das blutende Wort als
gute Beute heranschleppen.« Heinrich Heine
Eigensinnig wie Heinrich Heine verfolgt Peter Handke in seinem Werk
seinen Weg zu einer offenen Wahrheit. Den poetischen Blick auf die
Welt setzt er rücksichtslos gegen die veröffentlichte Meinung und
deren Rituale.« Mit dieser Begründung erkannte die Jury dem
Schriftsteller Peter Handke den Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preis zu.
Doch sofort reagierten einflußreiche Medien und einzelne Politiker
mit heftigen Attacken, die dazu geführt haben, daß die Düsseldorfer
Stadtratsfraktionen von SPD, FDP und Grünen die Vergabe des Preises
verweigern und verhindern.
Der Fall erinnert an die mehrjährigen Auseinandersetzungen, deren es
bedurfte, um die Benennung der Düsseldorfer Universität nach Heinrich
Heine durchzusetzen. Der in Düsseldorf geborene Dichter und
Journalist, der für die Ideen der Französischen Revolution Partei
nahm, wurde zeitlebens und über den Tod hinaus von deutschen
Zensurbehörden verfolgt. (...)
Peter Handke mahnt seit Jahren immer wieder »Gerechtigkeit für
Serbien« an. Er hat den ihm als Unverfrorenheit ausgelegten Mut, auch
auf die serbischen Opfer des Krieges hinzuweisen, die in der
deutschen Öffentlichkeit nach wie vor kaum wahrgenommen werden, da
die Medien und die führenden Politiker fast unisono den Serben
kollektiv die Täterrolle zuschreiben.
Am 18. März sagte Peter Handke in Požarevac bei der Beerdigung von
Slobodan Milosevic: »Die Welt, die vermeintliche Welt, weiß alles
über Slobodan Milosevic. Die vermeintliche Welt kennt die Wahrheit.
Eben deshalb ist die vermeintliche Welt heute nicht anwesend, und
nicht nur heute und hier. Ich kenne die Wahrheit auch nicht. Aber ich
schaue. Ich begreife. Ich empfinde. Ich erinnere mich. Ich frage.
Eben deshalb bin ich heute hier zugegen.« Diese Worte drücken ein
anderes Verhältnis zur Wahrheit aus als Rudolf Scharpings frei
erfundene Kriegsgründe, Joseph Fischers Auschwitzvergleiche und das
bedauernde Lächeln des NATO-Pressesprechers Jamie Shea über
»Kollateralschäden«. Keiner der Verantwortlichen wurde für die
Manipulationen und die Kriegspropaganda zur Rechenschaft gezogen,
noch gab es jemals eine öffentliche Debatte darüber (auch nicht nach
der verdienstvollen WDR-Sendung »Es begann mit einer Lüge« anderthalb
Jahre nach dem Beginn der NATO-Bombenangriffe auf Jugoslawien), aber ü
ber den Heinrich-Heine-Preis an Peter Handke ereifern sich Medien und
Politiker, die verbergen wollen, was er aufzudecken bemüht ist: »Denn
was weiß man, wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)
Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und
Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches
allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? Was weiß
der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt, oder,
wie in den Fernsehnachrichten, ein Kürzel von einem Bild, oder, wie
in der Netzwelt, ein Kürzel von einem Kürzel?«
Völkerverständigung kann nicht auf Propaganda gedeihen, sondern nur
auf Aufklärung. Ein trauriges Beispiel hierfür ist Kosovo – wo die
angebliche »humanitäre Intervention« der NATO ein System geschaffen
hat, in dem Serben, Roma und Juden, soweit sie trotz
Massenvertreibung noch dort ausharren, sich nicht frei bewegen
können. »Gerechtigkeit für Serbien« – 1996, drei Jahre vor dem NATO-
Krieg, hat Peter Handke diese Zeile auf einer Jugoslawienreise
notiert, ahnend, was drohte: Krieg, unter deutscher Beteiligung, als
Folge der Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien, zu der die
deutsche Außenpolitik maßgeblich beigetragen hat. 1999 war Peter
Handke wieder in Serbien, während des Krieges, miterlebend und -
erleidend, wovor er vergeblich gewarnt hatte.
Der Heinrich-Heine-Preis gehört Peter Handke! Nicht der Preis der
Stadt Düsseldorf, der entwertet ist, sondern der Berliner Heinrich-
Heine-Preis, verbunden mit einem Preisgeld in Höhe von 50000 Euro,
verliehen von allen, die Peter Handke einer Auszeichnung im Namen
Heinrich Heines für würdig halten.
Die Unterzeichner übernehmen gern die Kriterien des Düsseldorfer
Heinrich-Heine-Preises, mit dem Persönlichkeiten geehrt werden
sollen, »die durch ihr geistiges Schaffen im Sinne der Grundrechte
des Menschen, für die sich Heinrich Heine eingesetzt hat, den
sozialen und politischen Fortschritt fördern, der Völkerverständigung
dienen oder die Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit aller Menschen
verbreiten«.
Am 10. Juni, nach Erscheinen des Aufrufs in Ossietzky, schreibt uns
Peter Handke: »Wer verdient solch einen Aufruf in die Freund- und
Freundschaftlichkeit? Ich bin berührt von Ihrer Geste, zugleich
möchte ich aber beiseitestehen und sie, die Geste, vorbeilassen für
etwas anderes, für ein Zeichengeben über mich hinaus. Warum also
nicht ein Preisgeld, wenn es zustandekäme, an die serbischen
Enklaven, die letzten, im Kosovo, übermitteln, an Dörfer, die,
allseits umzingelt, im Elendstrichter von Europa vegetieren müssen,
beschützt und bewacht von jenen Staaten, den westeuropäischen, die
ihnen mit Bombengewalt den eigenen Staat = Jugoslawien geraubt,
gebrandschatzt haben? So oder so: danke! Und, bitte, kein
Alternativpreis für mich.«
Wir werden uns gemeinsam mit Peter Handke bemühen, den Vorschlag
umzusetzen – wir teilen sein Anliegen, »ein nicht nur episodisches
Aufmerksamwerden« für alle Opfer des Jugoslawienkrieges zu bewirken.
Friedrich-Martin Balzer, Hartmut Barth-Engelbart, Ben Becker, Jürgen
Becker, Meret Becker, Rolf Becker, Hermann Beil, Esther Bejarano,
Peter Betscher, Rule von Bismarck, Daniela Dahn, Gruppe »Dialog von
unten«, Jutta Ditfurth, Evelyn Hartmann, Ralph Hartmann, Jutta
Hercher, Diana Johnstone, Dietrich Kittner, Peter Kleinert, Arno
Klönne, Monika Köhler, Otto Köhler, Kurt Köpruner, Joochen Laabs,
Otto Meyer, Werner Mittenzwei, Claus Peymann, Käthe Reichel, Renate
Richter, Karl Heinz Roth, Hans Georg Ruf, Cathrin Schütz, Hans See,
Rachel Seifert, Eckart Spoo, Peter Urban, Hanne Vack, Klaus Vack,
Michael Weber, Manfred Wekwerth, Jörg Wollenberg, Ingrid Zwerenz,
Gerhard Zwerenz
Zuschriften an: rolf.becker @ comlink.de, Fax 040 – 2803214
Treuhandkonto: Rolf Becker/Berliner Heine-Preis, Hamburger Sparkasse
(BLZ 20050550), Konto-Nummer: 1001212180 bislang sind 20000 Euro auf
dem Konto eingegangen; es fehlen also noch 30000 Euro, um Peter
Handkes Wunsch entsprechen zu können. Spenden sind also weiterhin
erbeten!
Junge Welt, 11.07.06
(Quelle: P. Betscher ü. truth@ public-files.de)
Beim Angriff auf Jugoslawien 1999 marschierten Journalisten im
Gleichschritt mit den NATO-Aggressoren.
Diese Parteinahme hält bis heute an
Eckart Spoo
Als im Frühjahr 1999 die ersten NATO-Bomben auf Serbien fielen,
geschah es in Hannover, daß ein junger Patient der Medizinischen
Hochschule es ablehnte, von Frau Dr. Ljiljana Verner behandelt zu
werden. Seine Begründung: Die Oberärztin habe selbst zugegeben,
Serbin zu sein.
So erging es Serben am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutschland
schon zweimal Serbien überfallen hatte und nun an einem dritten
Angriffskrieg gegen dieses Land teilnahm.
Im Mai 2006 fanden im deutsch-niederländischen Grenzgebiet wie
alljährlich gemeinsame Veranstaltungen zum Gedenken an die Schrecken
des Zweiten Weltkrieges und zur Mahnung für den Frieden statt,
inspiriert von dem Komitee »Nooit meer – Nie wieder«. Dessen
Hauptgründer auf deutscher Seite war der evangelische Pfarrer Koch
(Emlichheim) gewesen, der im Widerstand gegen das Naziregime gekämpft
und im KZ gelitten hatte. Diesmal war als Rednerin Ljiljana Verner
eingeladen, und es sollte eine Fotoausstellung gezeigt werden, die
ein Kriegsverbrechen dokumentiert: die Zerstörung der Brücke von
Varvarin (Zentralserbien) durch NATO-Bomber am Pfingstsonntag 1999.
Die Ausstellung wurde vom Bürgermeister der niederländischen Gemeinde
Dinkelland abgesagt, und die deutsche Nachbarstadt Nordhorn beeilte
sich, dem Komitee »Nooit meer – Nie wieder« die Unterstützung zu
entziehen. Von den Opfern des NATO-Kriegs zu sprechen, erschien den
tonangebenden Kommunalpolitikern als unvereinbar mit dem Gedenken an
die Opfer des Zweiten Weltkriegs.
Und daß ausgerechnet Ljiljana Verner eingeladen worden war! Die
Serbin! Haben wir es etwa nötig, auch einmal die Gegenseite zu Wort
kommen zu lassen! Darüber empörte sich die Nordhorner Stadtverwaltung
und warf »Nooit meer – Nie wieder« allen Ernstes »Einseitigkeit« vor.
Eine Provinzposse? Nein, herrschende Meinung: Die Gegenseite, die
Seite der Opfer, muß ausgeblendet werden. So war es in den ersten
Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, bis endlich in den 1990er
Jahren die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zeigte, was
50 Jahre zuvor in Serbien geschehen war. Und so ist es jetzt wieder
seit dem NATO-Krieg gegen Serbien. Wenn wir die Gegenseite zu Wort
kommen ließen, würde unsere schöne Selbstgerechtigkeit gestört. Über
die Kriegsverbrechen der NATO – und der Angriffskrieg selbst war das
Hauptverbrechen – muß eisern geschwiegen werden. Mit Serben zu reden,
sind wir allenfalls bereit, wenn sie sich der Siegerjustiz demütig
unterwerfen. Sie haben selbst im eigenen Land nicht mehr viel zu
sagen. Die dortige Presse ist weitgehend von deutschen Konzernen
übernommen worden. Realität ausgeblendet Man darf sich die
Kommunalpolitiker in Dinkelland und Nordhorn nicht als ungewöhnlich
beschränkt vorstellen. Ebensowenig die christlich-, frei-,
sozialdemokratischen und grünen Stadträte in Düsseldorf, die Peter
Handke als Heinrich-Heine-Preisträger ablehnten und rüde
beschimpften. Sie fühlten sich offenbar geradezu moralisch
verpflichtet, Düsseldorf und ganz Deutschland vor der Gefahr zu
schützen, daß plötzlich nicht mehr gilt, was bisher gegolten hat.
Darf denn ein Schriftsteller daherkommen und Zweifel daran säen, daß
die Serben urböse und wir Deutschen im Recht sind? Dürfen
verantwortungsbewußte Politiker staatstragender Parteien zulassen,
daß am Ende womöglich wir selber als Mitschuldige am Verbrechen eines
Angriffskriegs dastehen? Diese braven Grünen, Frei-, Sozial- und
Christdemokraten haben vermutlich einfach geglaubt, was sie auf dem
Bildschirm gesehen, im Radio gehört, in Zeitungen gelesen haben, sie
haben es für wahr gehalten, haben sich darauf verlassen und wollen
sich weiterhin darauf verlassen können. Dann liegt das Problem aber
nicht bei diesen Kommunalpolitikern, sondern bei den tonangebenden
Medien, die immer im Gleichschritt mit der Bundesregierung und der
NATO marschiert sind.
Als Rolf Becker und ich mit der Gewerkschaftergruppe »Dialog von
unten statt Bomben von oben« im Frühjahr 1999 während des
Bombenkriegs der NATO gegen Jugoslawien durch das angegriffene Land
reisten, selbst einige Bombardements erlebten und viele unvergeßliche
Begegnungen hatten, trafen wir in Belgrad auch den damaligen
Korrespondenten der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten
Deutschlands (ARD), Klaus Below. Man hätte annehmen müssen, daß er in
jenen Kriegswochen täglich auf dem Bildschirm erschienen wäre, um das
deutsche Fernsehpublikum zu informieren; doch gerade damals
verschwand er vom Bildschirm. Seine Berichte, so erfuhren wir von
ihm, wurden unterdrückt – nicht von jugoslawischer Seite, sondern von
den ARD-Verantwortlichen. Was er in Jugoslawien mit eigenen Augen
sah, paßte nicht in das Bild, das die NATO-Propaganda vermittelte.
Die öffentliche Meinung in den NATO-Ländern wurde damals fast
ausschließlich von der NATO gemacht, von den Regierungen der NATO-
Länder und vom damaligen Pressesprecher der NATO, Jamie Shea, der
später recht offen und sehr zynisch in einem Buch geschildert hat,
wie er damals für die rechte Kriegsstimmung sorgte – mit erfundenen
Geschichten und flotten Sprüchen. Realistische Kriegsdarstellungen
des ARD-Korrespondenten Below hätten da nur gestört. Unsere Gruppe
versuchte selbst mit äußerst geringem Erfolg, durch tägliche
Berichte, die wir deutschen Nachrichtenagenturen und Zeitungen
schickten, die Wirklichkeit dieses Krieges bekanntzumachen. Ähnlich
erging es Peter Handke, der damals und auch vorher und nachher zu den
wenigen gehörte, die sich an Ort und Stelle umsahen und umhörten.
Lügenpropaganda Die NATO bombardierte in Serbien neben
Chemiefabriken, Kraftwerken, Schulen, Krankenhäusern, Wohngebieten,
Eisenbahn- und Straßenbrücken auch Rundfunksender –
völkerrechtswidrig. Weil das serbische Fernsehen, in dessen Zentrale
bei einem nächtlichen Bombenangriff 16 Kollegen getötet wurden,
weiterhin Fotos und Filme von den Kriegszerstörungen ausstrahlte –
Zerstörungen, die es laut NATO-Propaganda nicht gab, allenfalls
sogenannte Kollateralschäden wurden zugegeben –, erwirkte der
damalige deutsche Außenminister Fischer bei der Eutelsat-Zentrale in
London die Abschaltung der Satellitenübertragung. Das Fernsehpublikum
in Deutschland und aller Welt sollte nicht erfahren, was die NATO in
Serbien anrichtete. Glatte Zensur! Verfassungswidrig!
Zensur und systematischer Mißbrauch der Medien zu Propagandazwecken
sind mit demokratischen Prinzipien unvereinbar. Was damals geschehen
ist – und dazu gehörte auch das Mikrofonverbot für einen
südwestdeutschen Rundfunkkollegen, der zutreffend den Krieg der NATO
gegen Jugoslawien einen Angriffskrieg genannt hatte –, muß endlich
aufgearbeitet werden. Es gab Ansätze dazu. So strahlte der
Westdeutsche Rundfunk (WDR) anderthalb Jahre nach dem Krieg eine
wohlrecherchierte Sendung unter dem Titel »Es begann mit einer Lüge«
aus. Der damalige Bundesverteidigungsminister Scharping wurde in
dieser Sendung mit mehreren krassen Lügen konfrontiert, mit denen er
versucht hatte, den Krieg zu rechtfertigen. Zum Beispiel hatte er
behauptet, »die Serben« hätten aus dem Stadion von Pristina ein KZ
gemacht. Daran war nichts Wahres. Peinlich für Scharping, peinlich
für alle, die solche Behauptungen kritiklos übernommen und
weiterverbreitet hatten. Politiker der damaligen Regierungskoalition
gingen mit Verleumdungen gegen die Sendung vor, an der aber nicht das
Geringste zu beanstanden war. Die Kunst des Fragens In der
Berichterstattung über jedweden Konflikt müßten Journalistinnen und
Journalisten auf nichts so sehr bedacht sein wie darauf, daß beide
Seiten zu Wort kommen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber
gerade in Kriegszeiten und schon in den Zeiten der Vorbereitung von
Kriegen, also dann, wenn es am meisten darauf ankommt, vergessen die
Journalisten das Gelernte, sammeln sich unter der Fahne und machen
Propaganda; viele merken nicht einmal, wozu sie sich hergeben – so
stark ist der Erwartungsdruck, unter dem sie arbeiten.
Die Justiz kennt seit vielen Jahrhunderten den Grundsatz, daß kein
gerechtes Urteil gefällt werden kann, ehe nicht beiden Seiten Gehör
gegeben wurde. Auch der Souverän in der Demokratie kann sich kein
zutreffendes Urteil bilden, wenn er nur einseitig informiert ist. Aus
den Erfahrungen in Jugoslawien habe ich den Schluß gezogen, daß
Journalisten (ich meine solche, die überhaupt selbst recherchieren,
das sind nicht viele) den offiziellen Angaben grundsätzlich nicht
trauen dürfen, vor allem nicht den Angaben der eigenen
beziehungsweise befreundeten Seite – im Zweifelsfall eher den Angaben
der anderen Seite. Deren Darstellung hat zumindest den Wert, daß sie
uns kritikfähig gegenüber der Darstellung der eigenen Seite machen
kann. Die Gefahr, aus Leichtgläubigkeit mitschuldig zu werden,
besteht in der Regel nur auf der eigenen Seite. Die wichtigste
Wahrheit in einem militärischen Konflikt ist ohnehin immer die über
den Gegner, zum Beispiel über seine Motive und seine Stärke.
»Embedded journalists«, wie die US-Streitkräfte sie im jüngsten Irak-
Krieg auf Panzern mitfahren ließen, erfahren von dieser wichtigsten
Wahrheit nichts.
Während des Bombenkriegs gegen Jugoslawien und schon lange vorher kam
Slobodan Milosevic, der demokratisch gewählte Staatspräsident
Serbiens und Jugoslawiens, in den deutschen Medien niemals im
Originalton zu Wort. Der Prozeß gegen ihn in Den Haag hätte
Gelegenheit zur Wahrheitsfindung geben können, aber unsere
Wahrnehmungsschwäche hielt an. Berichtet wurde immer wieder, die
Chefanklägerin Carla del Ponte verfüge nunmehr über Beweise für die
Schuld Milosevics. Wie sie dann im Verhandlungssaal mit ihren
angeblichen Beweisen regelmäßig scheiterte, interessierte anscheinend
nicht. Der Prozeß endete mit dem Tod des Angeklagten, nicht mit einem
Schuldspruch, zu dem es nur unter Verdrehung der Fakten hätte kommen
können.
Weil Milosevic nicht verurteilt wurde, muß er nach einem
unaufgebbaren Rechtsprinzip als unschuldig gelten. Doch das Feindbild
»die Serben« steckt fest im deutschen Schädel – seit Generationen.
»Die Serben« sind Täter und müssen mit Sanktionen belegt werden. Sie
müssen schuld gewesen sein an den Kriegen, die wir gegen sie geführt
haben. Namentlich Milosevic. Frage ich nach, fällt allen dasselbe
Stichwort ein: Srebrenica. Was dort geschah? Was vorausgegangen war?
Was Milosevic damit zu tun hatte (nämlich gar nichts)? Das wollen sie
nicht so genau wissen. Und Kragujevac? Das interessiert schon gar
nicht. Bei diesem größten Massaker auf dem Balkan während des Zweiten
Weltkriegs (7000 Tote) waren Deutsche die Täter gewesen. Das wissen
wir nicht und wollen es nicht wissen. 1999 zerbombte die NATO fast
alle 50000 industriellen Arbeitsplätze in Kragujevac und beschädigte
auch die Gedenkstätte am Ort des Massakers von 1941. Nein, das müssen
wir nicht wissen. Kragujevac kennen wir nicht. Uns genügt Srebrenica.
Keine weiteren Fragen.
Peter Handke hat in den Auseinandersetzungen der letzten Wochen an
uns alle appelliert: »Lernen wir die Kunst des Fragens.« In der
Pariser Libération vom 10. Mai hat er davor gewarnt, über Jugoslawien
mit »ausschließlich präfabrizierten Worten, unendlich oft wiederholt,
gebraucht wie automatische Waffen« zu sprechen und zu schreiben. »Als
Einzelner«, so kommentierte am 31. Mai Cornelia Niedermeier im Wiener
Standard, »als Einzelner verteidigt er den Willen zum eigenen Blick
gegen den entliehenen Massenblick der Medien«.
Verantwortungsbewußte Journalisten sollten das als eine
Herausforderung begreifen. Peter Handke, auch und gerade mit seinen
Büchern über Serbien, fordert die Medien in den NATO-Ländern, nicht
zuletzt in Deutschland, zum Nachdenken über ihre Rolle heraus – und
nicht nur die Medien als Apparate, sondern jeden einzelnen Journalisten.
Die Kunst des Fragens wird täglich gebraucht. Nur der eigene Blick
kann uns davor bewahren, in immer neue Katastrophen hineingezogen zu
werden. Mit tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern müssen wir
reden, wenn wir neue Kriege vermeiden wollen. Mundtot gemacht Wo
Regierungen aufhören, den friedlichen Interessenausgleich zu suchen,
wo sie aufhören zu verhandeln, wo sie alle Kommunikation abbrechen
und wo die tonangebenden Medien die Gegenseite nur noch verteufeln
(Milosevic, »der Diktator«, »der Schlächter«, »der neue Hitler«), da
ist Krieg nicht fern. Wenn mit der Hamas, der demokratisch gewählten
Regierungspartei der Palästinenser, nicht gesprochen werden darf,
droht die physische Vernichtung der Palästinenser. Ähnlich
beängstigend ist es, daß die westliche Welt sich darauf festgelegt
hat, nicht mit dem gewählten Präsidenten von Belarus, Alexander
Lukaschenko, und anderen Vertretern des Landes zu sprechen. Im Mai
fand in Berlin ein Europäisches Friedensforum statt; der Vertreter
der Friedensbewegung von Belarus mußte fernbleiben, weil ihm
Deutschland das Visum versagte. Völker werden mundtot gemacht, bevor
sie Opfer von Bomben werden. Und die Überlebenden müssen mundtot
bleiben, damit die Täter nicht an ihre Verbrechen erinnert werden.
Mitte Juni führte die Neue Zürcher Zeitung ein ausführliches
Interview mit Peter Handke, nachdem er in Deutschland schon fast zur
Unperson geworden war. Zum Schäbigsten, was ich hierzulande
gelegentlich über ihn las, gehörten Sätze von der Art, daß er zwar
kein schlechter Schreiber sei, aber eben einen »Spleen« habe, den
»Jugoslawien-Spleen« (Frankfurter Rundschau). Das sollte einfach
heißen: Handke sei nicht ernst zu nehmen. Aber der Autor läßt sich
nicht von seinem Thema trennen. So kommen wir nicht davon. So können
wir uns der Herausforderung dieses Mannes nicht entziehen.
In einer Pressekonferenz im Berliner Theater am Schiffbauerdamm, in
der über den Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke
informiert wurde, sagte die Initiatorin Käthe Reichel drastisch-
sarkastisch: »Keine Meinungsfreiheit, zumindest für Handke, wenn er
von Deutschland – das immer noch mit Auschwitz am Hals belastete –
erwartet, ›daß man Milosevic bitte nicht mit Hitler vergleichen‹
möge. Das ist aber zuviel verlangt. Das geht nicht. Wenn Deutschlands
Volk nicht lernt, Milosevic mit Hitler zu vergleichen, dann versteht
es die Bomben aus Deutschland auf Frauen und Kinder in Belgrad nicht
… Die Wahrheit ist dem Krieg nicht zumutbar. An ihr muß er verrecken.
Darum wünschte sich dieser Krieg, daß die Deutschen vergessen sollen,
daß die Serben sich selbst von Hitler befreit haben. An den Krieg
gegen Hitler soll man in Deutschland sich nicht mehr erinnern –
jetzt, wo Auschwitz nicht mehr in Auschwitz liegt, sondern in Serbien
und, was noch toller ist, das ganze Deutschland am Hindukusch liegt
und künftig in der ganzen Welt.«
Ein 08/15-Journalist meinte prompt, den Berliner Heinrich-Heine-
Preis, dessen Geldbetrag nach Handkes Wunsch dazu verwendet werden
soll, auf die Situation der Serben in den letzen Enklaven im Kosovo
aufmerksam zu machen, in »Milosevic-Preis« umbenennen zu sollen.
Käthe Reichel antwortete schlagfertig: »Hitler-Preis. Eigentlich
wollten Sie doch sagen: Hitler-Preis.«
Der Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm, Claus Peymann,
Mitunterzeichner des Aufrufs für den Preis, erhielt inzwischen »Sieg
Heil«-Zuschriften. Anfang 2007 wird dort ein neues Stück von Peter
Handke uraufgeführt werden.
Eckart Spoo ist verantwortlicher Redakteur von Ossietzky.
Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft. Den Artikel
entnahmen dem aktuellen Heft (Nr. 14) der Zeitschrift (Einzelpreis
2,50 Euro, Bestellungen an ossietzky @ interdruck.net)
Wir danken der Redaktion Ossietzky für die freundliche Genehmigung
zum Nachdruck
Dokumentiert: »Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke«
"Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke"
»...und es fehlt nicht an gelehrten Hunden, die das blutende Wort als
gute Beute heranschleppen.« Heinrich Heine
Eigensinnig wie Heinrich Heine verfolgt Peter Handke in seinem Werk
seinen Weg zu einer offenen Wahrheit. Den poetischen Blick auf die
Welt setzt er rücksichtslos gegen die veröffentlichte Meinung und
deren Rituale.« Mit dieser Begründung erkannte die Jury dem
Schriftsteller Peter Handke den Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preis zu.
Doch sofort reagierten einflußreiche Medien und einzelne Politiker
mit heftigen Attacken, die dazu geführt haben, daß die Düsseldorfer
Stadtratsfraktionen von SPD, FDP und Grünen die Vergabe des Preises
verweigern und verhindern.
Der Fall erinnert an die mehrjährigen Auseinandersetzungen, deren es
bedurfte, um die Benennung der Düsseldorfer Universität nach Heinrich
Heine durchzusetzen. Der in Düsseldorf geborene Dichter und
Journalist, der für die Ideen der Französischen Revolution Partei
nahm, wurde zeitlebens und über den Tod hinaus von deutschen
Zensurbehörden verfolgt. (...)
Peter Handke mahnt seit Jahren immer wieder »Gerechtigkeit für
Serbien« an. Er hat den ihm als Unverfrorenheit ausgelegten Mut, auch
auf die serbischen Opfer des Krieges hinzuweisen, die in der
deutschen Öffentlichkeit nach wie vor kaum wahrgenommen werden, da
die Medien und die führenden Politiker fast unisono den Serben
kollektiv die Täterrolle zuschreiben.
Am 18. März sagte Peter Handke in Požarevac bei der Beerdigung von
Slobodan Milosevic: »Die Welt, die vermeintliche Welt, weiß alles
über Slobodan Milosevic. Die vermeintliche Welt kennt die Wahrheit.
Eben deshalb ist die vermeintliche Welt heute nicht anwesend, und
nicht nur heute und hier. Ich kenne die Wahrheit auch nicht. Aber ich
schaue. Ich begreife. Ich empfinde. Ich erinnere mich. Ich frage.
Eben deshalb bin ich heute hier zugegen.« Diese Worte drücken ein
anderes Verhältnis zur Wahrheit aus als Rudolf Scharpings frei
erfundene Kriegsgründe, Joseph Fischers Auschwitzvergleiche und das
bedauernde Lächeln des NATO-Pressesprechers Jamie Shea über
»Kollateralschäden«. Keiner der Verantwortlichen wurde für die
Manipulationen und die Kriegspropaganda zur Rechenschaft gezogen,
noch gab es jemals eine öffentliche Debatte darüber (auch nicht nach
der verdienstvollen WDR-Sendung »Es begann mit einer Lüge« anderthalb
Jahre nach dem Beginn der NATO-Bombenangriffe auf Jugoslawien), aber ü
ber den Heinrich-Heine-Preis an Peter Handke ereifern sich Medien und
Politiker, die verbergen wollen, was er aufzudecken bemüht ist: »Denn
was weiß man, wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)
Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und
Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches
allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? Was weiß
der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt, oder,
wie in den Fernsehnachrichten, ein Kürzel von einem Bild, oder, wie
in der Netzwelt, ein Kürzel von einem Kürzel?«
Völkerverständigung kann nicht auf Propaganda gedeihen, sondern nur
auf Aufklärung. Ein trauriges Beispiel hierfür ist Kosovo – wo die
angebliche »humanitäre Intervention« der NATO ein System geschaffen
hat, in dem Serben, Roma und Juden, soweit sie trotz
Massenvertreibung noch dort ausharren, sich nicht frei bewegen
können. »Gerechtigkeit für Serbien« – 1996, drei Jahre vor dem NATO-
Krieg, hat Peter Handke diese Zeile auf einer Jugoslawienreise
notiert, ahnend, was drohte: Krieg, unter deutscher Beteiligung, als
Folge der Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien, zu der die
deutsche Außenpolitik maßgeblich beigetragen hat. 1999 war Peter
Handke wieder in Serbien, während des Krieges, miterlebend und -
erleidend, wovor er vergeblich gewarnt hatte.
Der Heinrich-Heine-Preis gehört Peter Handke! Nicht der Preis der
Stadt Düsseldorf, der entwertet ist, sondern der Berliner Heinrich-
Heine-Preis, verbunden mit einem Preisgeld in Höhe von 50000 Euro,
verliehen von allen, die Peter Handke einer Auszeichnung im Namen
Heinrich Heines für würdig halten.
Die Unterzeichner übernehmen gern die Kriterien des Düsseldorfer
Heinrich-Heine-Preises, mit dem Persönlichkeiten geehrt werden
sollen, »die durch ihr geistiges Schaffen im Sinne der Grundrechte
des Menschen, für die sich Heinrich Heine eingesetzt hat, den
sozialen und politischen Fortschritt fördern, der Völkerverständigung
dienen oder die Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit aller Menschen
verbreiten«.
Am 10. Juni, nach Erscheinen des Aufrufs in Ossietzky, schreibt uns
Peter Handke: »Wer verdient solch einen Aufruf in die Freund- und
Freundschaftlichkeit? Ich bin berührt von Ihrer Geste, zugleich
möchte ich aber beiseitestehen und sie, die Geste, vorbeilassen für
etwas anderes, für ein Zeichengeben über mich hinaus. Warum also
nicht ein Preisgeld, wenn es zustandekäme, an die serbischen
Enklaven, die letzten, im Kosovo, übermitteln, an Dörfer, die,
allseits umzingelt, im Elendstrichter von Europa vegetieren müssen,
beschützt und bewacht von jenen Staaten, den westeuropäischen, die
ihnen mit Bombengewalt den eigenen Staat = Jugoslawien geraubt,
gebrandschatzt haben? So oder so: danke! Und, bitte, kein
Alternativpreis für mich.«
Wir werden uns gemeinsam mit Peter Handke bemühen, den Vorschlag
umzusetzen – wir teilen sein Anliegen, »ein nicht nur episodisches
Aufmerksamwerden« für alle Opfer des Jugoslawienkrieges zu bewirken.
Friedrich-Martin Balzer, Hartmut Barth-Engelbart, Ben Becker, Jürgen
Becker, Meret Becker, Rolf Becker, Hermann Beil, Esther Bejarano,
Peter Betscher, Rule von Bismarck, Daniela Dahn, Gruppe »Dialog von
unten«, Jutta Ditfurth, Evelyn Hartmann, Ralph Hartmann, Jutta
Hercher, Diana Johnstone, Dietrich Kittner, Peter Kleinert, Arno
Klönne, Monika Köhler, Otto Köhler, Kurt Köpruner, Joochen Laabs,
Otto Meyer, Werner Mittenzwei, Claus Peymann, Käthe Reichel, Renate
Richter, Karl Heinz Roth, Hans Georg Ruf, Cathrin Schütz, Hans See,
Rachel Seifert, Eckart Spoo, Peter Urban, Hanne Vack, Klaus Vack,
Michael Weber, Manfred Wekwerth, Jörg Wollenberg, Ingrid Zwerenz,
Gerhard Zwerenz
Zuschriften an: rolf.becker @ comlink.de, Fax 040 – 2803214
Treuhandkonto: Rolf Becker/Berliner Heine-Preis, Hamburger Sparkasse
(BLZ 20050550), Konto-Nummer: 1001212180 bislang sind 20000 Euro auf
dem Konto eingegangen; es fehlen also noch 30000 Euro, um Peter
Handkes Wunsch entsprechen zu können. Spenden sind also weiterhin
erbeten!
Junge Welt, 11.07.06
(Quelle: P. Betscher ü. truth@ public-files.de)