Verbrecherische Qualität 

18.02.2007


DEN HAAG/LONDON/BERLIN (Eigener Bericht) - Während letzter Vorbereitungen für die Abspaltung der früheren jugoslawischen Provinz Kosovo werden schwere Vorwürfe gegen das von Berlin unterstützte Jugoslawien-Tribunal in Den Haag laut. Das International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (Internationaler Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien, ICTY) verfolge politische Ziele, benachteilige die Angeklagten und beuge das Recht, urteilt der britische Publizist John Laughland im Gespräch mit dieser Redaktion. Der Haager Gerichtshof wird von der Bundesregierung "vorbehaltlos" unterstützt, das Auswärtige Amt bemüht sich, ICTY-Posten mit deutschem Fachpersonal zu besetzen. In der vergangenen Woche hat der deutsche Außenminister erneut von Belgrad verlangt, sich dem Tribunal bedingungslos zu unterwerfen. Das Haager ICTY sei lediglich ein "Werkzeug in der Hand der mächtigen Staaten" und diene dazu, in das Innenleben schwächerer Völkerrechtssubjekte einzugreifen, schreibt John Laughland in einem soeben erschienenen Buch. Da das Tribunal keiner demokratischen Kontrolle unterliege, sei seine Macht gefährlicher als die Macht nationalstaatlicher Institutionen.

Wie Frank-Walter Steinmeier im Namen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor wenigen Tagen bekräftigte, müsse sich Belgrad "zu einer rückhaltlosen Zusammenarbeit (...) mit dem Haager Tribunal" verpflichten.[1] Dies sei unverzichtbar für die Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein sogenanntes Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU. Berlin und Brüssel hatten die angeblich unzureichende Kooperationsbereitschaft der serbischen Regierung im Frühjahr zum Anlass genommen, die Verhandlungen abzubrechen.Der Schritt erfolgte nur wenige Wochen vor einem Sezessionsreferendum in Montenegro und hatte Folgen: Beobachter sahen die Befürworter der montenegrinischen Sezession durch die Strafmaßnahmen der EU gegen Belgrad erheblich gestärkt.[2] Das Haager ICTY hält auch in Zukunft geeignete Mittel bereit, um auf Serbien Druck auszuüben. Insbesondere die Forderung, Mitglieder der militärischen Eliten nach Den Haag auszuliefern, stellt die serbische Regierung vor kaum lösbare Probleme. Die Auslieferung soll widerständige Teile der serbischen Staatsstrukturen delegitimieren und das von ihnen ausgehende Verteidigungspotential schwächen. Ziel ist die vollständige Unterordnung des südosteuropäischen Landes.

In fast jeder Hinsicht unfair

Schwere Vorwürfe gegen das ICTY erhebt der britische Publizist John Laughland. Laughland hat den ICTY-Prozess gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic über mehrere Jahre beobachtet und beschreibt in seinem aktuellen Buch die skandalösen Umstände des Verfahrens. Demnach wurden in Den Haag bereits die Prozessregeln so gestaltet, "dass die Wahrscheinlichkeit, einen Prozess aus Mangel an Beweisen zu verlieren, möglichst gering ausfällt". Entsprechend begünstigt die Gerichtsordnung die Anklagevertreter und benachteiligt die Angeklagten.[3] "Der Prozess war in fast jeder Hinsicht unfair", resümiert Laughland im Gespräch mit german-foreign-policy.com. Den Höhepunkt bildete die Entscheidung des ICTY, Milosevic müsse sich von einem gegen seinen Willen eingesetzten Anwalt verteidigen lassen - auch in Abwesenheit. Damit ist "im internationalen Strafrecht der Grundsatz eingeführt worden, dass jemand in Abwesenheit gerichtlich belangt und verurteilt werden kann - und zwar unter der Verteidigung durch einen Rechtsanwalt, den er nicht akzeptiert und mit dem er nicht zusammenarbeitet."[4] Wie Laughland urteilt, sind das Haager Jugoslawien-Tribunal und der Überfall auf den südosteuropäischen Staat im Jahr 1999 "zwei Seiten derselben Münze".[5]

Recht auf Intervention

Deutschland und die weiteren Kriegsaggressoren nahmen für ihre illegalen Gewaltoperationen ein angebliches "Recht auf humanitäre Intervention" in Anspruch - ein Bruch mit dem bestehenden internationalen Recht, das Kriege nur zur Verteidigung zulässt und die gewaltsame Einmischung in innere Angelegenheiten eines fremden Staates verbietet. Auch das ICTY maßt sich das Recht an, einer nationalen Regierung Souveränitätsrechte zu entziehen und tatsächliche oder angebliche Menschenrechtsverletzungen abzuurteilen. Dabei fungiert es wie die überlegenen Waffen der NATO als nützliches "Instrument in der Hand mächtiger Staaten".[6] Laughland zufolge trifft dies auch auf andere Formen internationaler Gerichtsbarkeit zu. Der britische Publizist verweist darauf, dass der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) derzeit zwei Kriege in Afrika untersucht. "Dagegen scheint er den wichtigsten Krieg der jüngsten Zeit zu ignorieren, den angloamerikanischen Überfall auf den Irak und die Besetzung des Landes." Auch die deutschen Kriegshandlungen in Afghanistan sind nicht Gegenstand von Recherchen des ICC.

Sich selbst Gesetz

Laughland erinnert daran, dass das ICTY von den mächtigen Staaten genutzt werden kann, ohne nennenswerter demokratischer Kontrolle zu unterliegen. Im Jahr 1995 stellten Verteidiger eines angeklagten Jugoslawen die Rechtmäßigkeit des Gerichts in Frage. Über den Einspruch entschied das ICTY selbst und wies jegliche Kritik zurück. Gegenüber dem UN-Sicherheitsrat ist das Tribunal nur berichtspflichtig, die UN-Generalversammlung verfügt über keinerlei Kontrollrechte. "Die ICTY-Richter sind sich selbst Gesetz", schreibt Laughland.[7] Der britische Publizist warnt davor, Machtbefugnisse zu internationalisieren: "Staaten unterliegen wenigstens potenziell der Kontrolle durch die Bevölkerung, über die sie Macht ausüben; internationale Organisationen unterliegen nie einer solchen Kontrolle."[8] Ihre Macht ist daher "gefährlicher als diejenige der Nationalstaaten".

Stabstelle 05

Für die Berliner Politik, zu deren Standardrepertoire die Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten unter dem Vorwand humanitärer Erfordernisse gehört, besitzt das ICTY große Bedeutung. Die Unterstützung des Tribunals "bleibt (...) ein wichtiges politisches Interesse der Bundesregierung", teilt das Auswärtige Amt mit.[9] Berlin honoriert dies mit regulären Jahresbeiträgen von acht Millionen US-Dollar an das ICTY. Deutsche Ermittlungsbeamte sind im Auftrag des Tribunals in die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien entsandt worden, deutsche Behörden tauschen regelmäßig Informationen mit dem Haager Gericht aus. Mehrere vom ICTY verurteilte Täter wurden nach Deutschland überstellt. Der deutsche Einfluss schlägt sich auch in Form von Richterposten nieder. Ein ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof ist seit 2001 als ICTY-Richter tätig, zwei deutsche Juristen stehen auf Abruf als Richter für einzelne Prozesse bereit. Bewerber um weitere ICTY-Posten erfahren die Unterstützung der Stabstelle 05 - Internationale Personalpolitik im Auswärtigen Amt.

Willkürliche Setzungen

Wie die jüngst an Belgrad erhobenen Forderungen des deutschen Außenministers Steinmeier belegen, wird das Haager ICTY in der unmittelbaren Tagespolitik eingesetzt. Dabei werden Personen der zu unterwerfenden Staatsführung mit physischen Konsequenzen bedroht, sollten sie nicht gefügig sein. Für den früheren jugoslawischen Präsidenten endete die ICTY-Gefangenschaft mit dem Tod. Ähnliche Mittel kollektiver Angriffe auf die Freiheit und das Leben gegnerischer Individuen wendet die westliche Außenpolitik vermehrt an. Wie zuletzt im Iran belegt sie Wissenschaftler oder Politiker mit internationalen Reisesperren oder zieht deren ausländische Vermögen ein - stets unter Berufung auf vermeintliche Rechtspositionen, bei denen es sich um willkürliche Setzungen für Akte der Nötigung und Erpressung handelt. Diese Handlungen erreichen verbrecherische Qualität, wenn westliche Staaten politische Gegner auf offener Szene ermorden lassen oder deren rechtlosen Tod durch Überstellung an folternde Repressionsorgane ("extraordinary rendition") billigend in Kauf nehmen - so wie es in Deutschland die Regierung Schröder/Fischer tat.[10] Diesem sich entwickelnden Grundzug der neueren Außenpolitik setzt das ICTY die Krone auf.


Bitte lesen Sie das vollständige Interview mit John Laughland sowie die Rezension seines Buches über den Prozess gegen Slobodan Milosevic.

Bitte lesen Sie auch die beiden vorangegangenen Meldungen unseres Kosovo-Schwerpunktes: Selbstbestimmung und Logik der Dekomposition

[1] EU-Außenminister: Zukunft des Kosovo an einer "Wegscheide"; Pressemitteilung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 12.02.2007
[3] John Laughland: Travesty. The Trial of Slobodan Milosevic and the Corruption of International Justice, London/Ann Arbor 2007 (Pluto Press)
[5] John Laughland: Travesty. The Trial of Slobodan Milosevic and the Corruption of International Justice, London/Ann Arbor 2007 (Pluto Press)
[7] John Laughland: Travesty. The Trial of Slobodan Milosevic and the Corruption of International Justice, London/Ann Arbor 2007 (Pluto Press)
[9] Die Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda; www.auswaertiges-amt.de

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John Laughland: Travesty 


The Trial of Slobodan Milosevic and the Corruption of International Justice
London/Ann Arbor 2007 (Pluto Press)
232 Seiten
14,99 Pfund - 22,00 Euro
ISBN 0-7453-2635-8


"Wie Sie wissen", teilte NATO-Sprecher Jamie Shea am 17. Mai 1999 der interessierten Öffentlichkeit mit, "gäbe es ohne die NATO-Länder keinen Internationalen Gerichtshof, und es gäbe auch keinen Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien". Denn "die NATO-Länder sind in der vordersten Reihe derjenigen, die diese beiden Tribunale errichtet haben, die diese Tribunale finanzieren und die täglich ihre Aktivitäten unterstützen." Jamie Shea ließ keinen Zweifel, welchen Einfluss auf die Justiz Macht und Geld mit sich bringen: "Wir sind diejenigen, die das internationale Recht aufrecht erhalten, und nicht diejenigen, die es verletzen."

Der britische Publizist John Laughland hat den Prozess gegen Slobodan Milosevic von Anfang an beobachtet. Das International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (Internationaler Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien, ICTY) erhob im Mai 1999 Anklage gegen den damaligen Präsidenten Jugoslawiens, während deutsche Kampfflieger noch Luftangriffe auf das von ihm regierte Land flogen. Am 1. April 2001 wurde Milosevic verhaftet und am 18. Juni 2001 schließlich nach Den Haag ausgeliefert. Dort machte ihm ein Tribunal den Prozess, das nicht demokratisch legitimiert ist und keiner nennenswerten Kontrolle unterliegt.

John Laughland beschreibt minutiös die Vorgeschichte und den Verlauf des Prozesses sowie zahlreiche Details, die den skandalösen Charakter des Geschehens verdeutlichen. Der Angeklagte wird gegenüber der Anklage benachteiligt, muss schließlich akzeptieren, dass ein oktroyierter Anwalt ihn in Abwesenheit "verteidigt". Die Anklagevertreter erhalten ihre Macht und ihre Beweismittel weitestgehend von den Kriegsaggressoren und beziehen sich bei ihren Rechtsvorträgen auf die Unterlagen von Rechtbrechern. Zeugen der Anklage beschweren sich mehrfach über die Fälschung ihrer Aussagen in den Protokollen, verweigern die Unterschrift. "Ich habe das nicht gesagt", empört sich einer: "Was immer dort geschrieben steht, so habe ich es nicht ausgedrückt. Wenn mir das in den Mund gelegt wurde, halte ich das nicht für in Ordnung."

Vor allem Willkür ist im Prozess gegen Slobodan Milosevic erkennbar, richtet man die Aufmerksamkeit auf den formalen Prozessverlauf und auf das juristische Verfahren. Nimmt man den politischen Kontext in den Blick, dann zeigen sich die handelnden Kräfte deutlich: Mächtige Staaten, darunter Deutschland, die abhängige Gerichte zusammenstellen und mit deren "Rechtsprechung" zufrieden sein können. Keines des Kriegsverbrechen, das die NATO-Staaten - unter anderen auch die Bundesrepublik - sich während des Angriffs auf Jugoslawien zuschulden kommen ließen, wird vom ICTY behandelt. John Laughland findet deutliche Worte: "Tribunale, die nur ein diplomatisches Instrument in der Hand mächtiger Staaten sind, sprechen tatsächlich keinesfalls Recht, sondern beschaffen statt dessen unechte Vorwände für ihre Zahlmeister, und dadurch prostituieren sie das Rechtsverfahren selbst."

18.02.2007