Serbien hat in der UNO-Vollversammlung den Antrag gestellt, beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag ein Rechtsgutachten über die Abspaltung seiner Südprovinz einzuholen. Damit verzichtet Belgrad zumindest vorläufig auf eine Klage gegen Pristina und die Staaten, welche die Sezession anerkannt haben. Die UNO-Vollversammlung soll am kommenden Mittwoch über den Antrag entscheiden. Es genügt eine einfache Mehrheit. Der serbische Außenminister Vuk Jeremić hat schon im Juli darauf hingewiesen, dass es "noch nie vorgekommen" [1] ist, "dass ein Land in der Vollversammlung daran gehindert wurde, den IGH um eine Einschätzung zu bitten". Genau dies versuchen jedoch die Regierungen mehrerer westlicher Staaten.
Gefolgschaft verweigert
Inzwischen stehen die vor allem Berlin und Washington zugeschriebenen Bemühungen, die IGH-Rechtsauskunft für Belgrad zu unterdrücken, vor dem Scheitern. Konnten die westlichen Pressionen, die bereits im Sommer Gegenstand von Presseinterviews waren [2], die serbische Regierung nicht davon abhalten, ihren Antrag in New York einzureichen, so schlugen jetzt auch Versuche fehl, den Wortlaut des Antrags abzuschwächen. Obwohl Washington und Berlin in New York mit "Nein" stimmen oder sich zumindest enthalten wollen, haben bei einer Probeabstimmung rund zwei Drittel aller 192 UNO-Staaten dem Westen die Gefolgschaft verweigert und befürworten die Erstellung eines IGH-Gutachtens zur kosovarischen Sezession.[3] Wie der serbische Staatspräsident vor wenigen Tagen berichtete, dauern jedoch die westlichen Obstruktionen an und zielen jetzt vor allem darauf, weitere Staaten zur Anerkennung der kosovarischen Eigenstaatlichkeit zu veranlassen. Bis heute haben dies nur 47 Staaten getan - trotz massiven Drucks aus den großen EU-Ländern und den USA nicht einmal ein Viertel der UNO-Mitglieder.
Letzte Tricks
Damit steht Berlin vor einer ernsten Niederlage. Weil die Rechtslage eindeutig ist und die kosovarische Sezession klar gegen die UNO-Charta verstößt, herrscht Ungewissheit, wie ein für den Westen ungünstiges IGH-Votum verhindert werden kann. Möglichkeiten gebe es in dem Unterausschuss der UNO-Vollversammlung, der die konkrete Antragsformulierung beschließen muss, erklärt der Berliner Rechtsprofessor Christian Tomuschat: Dort würden häufig strittige Fragen ausgeklammert; "dann hat der Gerichtshof gar nicht die Möglichkeit, sich zum eigentlichen Schwerpunkt zu äußern."[4] Der Unterausschuss nimmt am Montag seine Arbeit auf. Sollte Serbien jedoch seine Wunsch-Formulierung durchbringen, bliebe als letztes Mittel massiver Druck auf den IGH.
Fakten schaffen
Sollte auch diese Option scheitern, plädieren deutsche Experten für die Nichtbeachtung der internationalen Rechtsprechung. Weder der IGH noch die UNO könnten Fakten schaffen, behauptet der Politikberater Franz-Lothar Altmann: "Die Unabhängigkeit eines Staates kann nur durch die Anerkennung einzelner Staaten festgestellt werden."[5] Der Forderung, in zentralen Souveränitätsfragen endgültig die Willkür der Mächtigen zum globalen Gestaltungsprinzip aufzuwerten, schließt sich der EU-Sonderbeauftragte für das Kosovo an und behauptet: "Die Unabhängigkeit des Kosovo ist ein Faktum und kann nicht verändert werden, selbst wenn sich Serbiens Initiative vor dem IGH als erfolgreich erweisen würde".[6] Bisher sind die großen EU-Staaten und die USA mit solchen Positionen relativ isoliert. Inzwischen machen erste Ankündigungen die Runde, denen zufolge Regierungen, welche die kosovarische Sezession bereits anerkannt haben, ihre Anerkennung im Falle eines negativen IGH-Votums zurückziehen wollen.[7]
Beihilfe
Ungeachtet aller Auseinandersetzungen schafft die Bundesregierung Fakten und treibt den Aufbau eines eigenständigen Staates "Kosovo" voran. Neben politischer Flankierung hat Berlin Mitte September auch weitere Unterstützung bei der Entwicklung der kosovarischen Infrastruktur zugesagt und Pristina für das laufende Haushaltsjahr insgesamt 40 Millionen Euro aus dem Entwicklungsetat zur Verfügung gestellt. Für 2009 stehen weitere 60 Millionen Euro bereit. Die Maßnahmen beschränken sich nicht auf bauliche Hilfen, sondern beziehen die Konsolidierung quasistaatlicher Strukturen in Pristina ein. So wurden 600.000 Reisepässe und 400.000 Führerscheine, mit deren Ausgabe das kosovarische Innenministerium begonnen hat, von der Münchner Firma Giesecke und Devrient produziert. "Mit der Ausgabe der Reisepässe erfüllen wir rechtliche Grundlagen für einen souveränen Kosovo", erklärt der kosovarische "Innenminister" - ein Hinweis darauf, dass der Vorwurf strafbarer Beihilfe zu illegaler Sezession nicht nur die Regierung, sondern auch Mitarbeiter privater Unternehmen trifft.[8]
Organhandel
Gegen die neuen kosovarischen Herrscher, die Berlin in Pristina an die Regierung gebracht hat und dort auch hält, werden zum wiederholten Male schwere Vorwürfe laut. So bekräftigen umfangreiche Presserecherchen den Verdacht, dass die ehemalige kosovarische Terrormiliz UCK serbische Gefangene ums Leben gebracht und mit ihren Organen Handel getrieben hat.[9] Dies hatte schon vor Monaten die zuvor abgesetzte Chefanklägerin am Jugoslawien-Tribunal Carla del Ponte unter Berufung auf zahlreiche Zeugen berichtet. In die Affäre soll der frühere UCK-Chef und heutige "Ministerpräsident" in Pristina, Hashim Thaci, verwickelt sein.[10] Auch um die "Botschafter", die Pristina in mehrere europäische Staaten und die USA entsenden will, gibt es Streit. Unter anderem wird der designierte "Botschafter" des Kosovo in der Schweiz bezichtigt, Geld für den UCK-Krieg gegen Serbien gesammelt und dabei in Konflikt mit den Schweizer Behörden geraten zu sein; auch von Erpressung ist die Rede.[11] Zwar dementiert das Schweizer Außenministerium, dass die Vorwürfe im Zusammenhang mit bestehenden Vorbehalten gegen den "Botschafter" Bedeutung besitzen. Die Akkreditierung ist dennoch bis heute in der Schwebe.
Keine Einzelfälle
Bei den Vorwürfen gegen Angehörige der neuen Pristinaer Eliten handelt es sich nicht um Einzelfälle. Wie die OSZE in einem soeben erschienenen Bericht über die Lage der Menschenrechte im Kosovo schreibt, bestehen dort nicht nur gravierende Mängel bei der Durchsetzung rechtsstaatlicher Verhältnisse.[12] Insbesondere der Kampf gegen Organisierte Kriminalität und gegen Menschenhandel [13] schreitet allenfalls geringfügig voran. Dafür nimmt jedoch die Einmischung der neuen politischen Eliten in die Angelegenheiten der Justiz, der Polizei und auch der Medien zu: Die neue Macht in Pristina schafft ihrer Willkür Raum.
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