Anlage 4

Aus "TOPOS - Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie" , hr=
sg.
von Hans
Heinz Holz und Domenico Losurdo, Heft 16, Napoli: Editioni La Città =
del
Sole,
2000; S. 109-120 (ISBN 88-8292-107-7) Anschrift der Redaktion: Dr.
Dieter
Kraft, Rosenthaler Str. 19, D 10119 Berlin Tel.&Fax: +49 (0) 30 -
2820780;
Email: Redaktion-Topos@...


IMPERIALISTISCHES STRAFRECHT?
Von Erich Buchholz

I.

Imperialismus - als gesellschaftswissenschaftliche Kategorie - soll =
hier
stehen für
Monopolkapitalismus im Gegensatz zum (vormonopolistischen) Kapitalis=
mus
der
freien Konkurrenz. So erweist sich Imperialismus als Negation des
(vormonopolistischen) Kapitalismus der freien Konkurrenz.

Diese Veränderung im Ökonomischen, in den materiellen Verhältnissen =
als
dem in
letzter Instanz für das gesellschaftliche Leben und eine
gesellschaftliche Ordnung
Entscheidenden, diese Negation des Kapitalismus durch den Imperialis=
mus
reflektiert sich in spezifischer Weise in relevanten
Überbauerscheinungen, zu denen
auch das Recht, mit Rechtsetzung und Rechtsanwendung, insbesondere i=
n
der
Rechtsprechung der Gerichte, und die Auffassungen vom Recht, die
Rechtslehren
mit entsprechenden Rechtsideologien, gehören.

Indessen stellen solche Elemente des juristischen und ideologischen
Überbaus
keine bloßen »Reflexe« dar, die lediglich im Nachhinein widerspiegel=
n,
was sich
in der Basis vollzog. Sie eilen vielmehr als ideelle Reflexion durch=
aus
auch der
ökonomischen Entwicklung voraus und wirken auf sie zurück und
beeinflussen sie -
selbstredend in mannigfaltiger vielschichtiger Weise.

Jedenfalls wäre es ein großer Irrtum anzunehmen, derartige Reflexion=
en
des
Überbaus verhielten sich zur Basis so unmittelbar und mechanisch wie=
ein

photografisches Abbild.


II.

Die Distanz zwischen Basis und Überbau ist - nachvollziehbar - beson=
ders
groß
und stark vermittelt, wenn dieser Zusammenhang an einem Phänomen wie=
dem

Strafrecht betrachtet werden soll.

Unter Strafrecht soll in diesem Kontext nicht nur die Gesamtheit der=

Normen
(Rechtsvorschriften) verstanden werden, die per Gesetz die
(juristischen)
Voraussetzungen einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, mithin ei=
ner
Strafbarkeit
und dann auch der Bestrafung, regeln. Einzuschließen ist auch die
Strafrechtspraxis
in Gestalt der Strafverfolgung durch die Strafverfolgungsbehörden un=
d
die
Verurteilung durch die Gerichte, also die Strafrechtsprechung, und n=
icht
zuletzt die
Strafrechtslehre. Denn diese erweist sich sowohl als
theoretisch-ideologische
Vorstufe und Voraussetzung entsprechender Strafgesetzgebung als auch=
als

theoretisch-ideologische Untermauerung und Begründung bzw.
Rechtfertigung
relevanter Richtersprüche, namentlich der höchsten Strafgerichte, al=
so -
da hier
vornehmlich das deutsche imperialistische Strafrecht behandelt wird =

des
Reichsgerichts (RG) und des Bundesgerichtshofes (BGH).

Selbstverständlich gibt es das imperialistische Strafrecht nicht als=
ein
bestimmtes
Einziges; es hat, so vielfältig, wie der Imperialismus in dieser Wel=
t in
diesen mehr
als einhundert Jahren war und ist, seine Vielfalt und es unterlag un=
d
unterliegt
beachtlichen Veränderung.

Aber unter dem gestellten Thema können wir bestimmte Charakteristika=

eben
dieses imperialistischen Strafrechts erkennen, die uns berechtigen v=
on
einem
imperialistischen Strafrecht zu sprechen.

Als Ausgangsthese haben wir den Imperialismus als Negation des
(vormonopolistischen) Kapitalismus der freien Konkurrenz gekennzeich=
net.
So soll
auch das imperialistische Strafrecht als Negation des klassischen
(bürgerlichen)
Strafrechts dargestellt und erläutert werden. Es versteht sich, daß
dies in diesem
Rahmen nur sehr global, sehr vereinfacht und sehr verallgemeinert
erfolgen kann.


III.

Was zeichnet das klassische bürgerliche Strafrecht in Mittel- und
Westeuropa auf
dem Kontinent, insbesondere in deutschen Landen, aus ?

Zuvor darf ganz allgemein auf ein wichtiges Kennzeichen und Erforder=
nis
des
bürgerlichen Rechts hingewiesen werden.

Zum Zwecke der geforderten und erstrebten Freiheit der Bürger, d.h.
vornehmlich
der Freiheit, Eigentum zu haben, zu erwerben und darüber zu verfügen=
, es

wirtschaftlich profitabel zu verwerten (vgl. den später dem
französischen Code
Napol‚on nachgebildeten § 903 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuche=
s,
des
BGB), sind vornehmlich die Prinzipien der Gleichheit vor dem Gesetz =
und
dem
Gericht, der Gesetzlichkeit und der Rechtssicherheit herausgebildet
worden.

Im Interesse des dritten Standes, der sich als Repräsentant des Volk=
es
verstand und
darstellte, sollte - in Ablösung der früheren feudal-absolutistische=
n
Willkür - durch
das Gesetz, das nunmehr durch eine demokratische Repräsentanz »des«
Volkes, das
Parlament, zu erlassen war, ein für allemal und für jedermann eindeu=
tig
unverrückbar klargestellt werden, was gilt, welche

Rechte jeder Einzelne hat und auch welche Pflichten ihm auferlegt si=
nd
(namentlich
Steuern zu zahlen),was er darf und was etwa verboten und unter Straf=
e
gestellt ist
und was nicht.

Der Einzelne - und das war ja in erster Linie der Bourgeois, der
Kaufmann, der
Handwerker, der Fabrikant, der Unternehmer usw.- sollte sich darauf
verlassen und
darauf einstellen können, was im Gesetz geschrieben steht, daß also
Rechtssicherheit besteht (sog. Vertrauensgrundsatz).

Denn nur unter solchen Voraussetzungen kann der Bourgeois »in Ruhe« =
und
beruhigt Waren produzieren und Handel treiben - und halbwegs sicher
Profit
machen. Nur unter solcher Voraussetzung wird ein Kapitalist geneigt
sein, Kapital
zu investieren.

Sehr anschaulich bewahrheitet sich diese Wahrheit gegenwärtig in
verschiedenen
früher sozialistischen Ländern: Das Fehlen einer solchen
Rechtssicherheit erweist
sich als Barriere gegen Investitionen !

Diese Rechtssicherheit und strikte Gesetzlichkeit für alle Bürger wa=
r
ein
notwendiges Grundelement der für die Entwicklung von Warenproduktion=
und

Handel erforderlichen Zuverlässigkeit und Rechtssicherheit.


IV.

Wie reflektierte sich dieses allgemeine Charakteristikum des
bürgerlichen Rechts
auf dem Gebiete des Strafrechts ?

Halten wir uns - um es an den Lehren eines maßgeblichen Repräsentant=
en
zu
veranschaulichen - an Johann Paul Anselm Feuerbach, den Schöpfer des=

bayrischen
Strafgesetzbuches, das der dänische Jurist Örsted als »die reifste
Frucht der
strafrechtlichen Einsichten des Zeitalters« bezeichnete.

Seine klassischen Lehren gehen vom Hauptzweck des Strafrechts aus, d=
ie
wechselseitige Freiheit aller Bürger zu sichern. Daraus wurden folge=
nde
Kernaussagen abgeleitet, die hauptsächlich um das Prinzip der
Gesetzlichkeit
kulminieren:

1) An der Spitze steht der Grundsatz der Bindung des Richters an das=

Gesetz. In
diesem Gesetz muß für alle gleichermaßen verbindlich genau beschrieb=
en
sein,
welche Handlung eine Straftat sein und deshalb unter Strafe gestellt=

sein soll
(nullum crimen, nulla poena sine lege).

Dieser ganz elementare Grundsatz der Strafgesetzlichkeit, dieses
nulla-poena-Prinzip, findet sich demgemäß in allen neuzeitlichen
Strafgesetzbüchern (so im § 2 des Strafgesetzbuches des Deutschen
Reiches von
1871, nunmehr im § 2 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, StGB, au=
ch
in
Verfassungen, so in Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz, GG, dann auch in de=
n
Menschenrechtskonventionen, so in Art. 7 Abs. 1 der Europäischen und=
in
Art. 15
Abs. 1 der Internationalen, und jetzt auch in Art. 49 Abs. 1 der
Europäischen
Grundrechtscharta.


2) Genau so eindeutig soll im Gesetz bestimmt sein, welche Strafe fü=
r
die Tat
verhängt werden darf, sog. gesetzliche Strafe (poena legalis); damit=

wurde die bis
dato geläufige außerordentliche Strafe, die poena extraordinaria,
abgeschafft.

3) Nur Handlungen, nicht Gesinnungen, allein die Tat, die die äußere=
n
Rechte
(Interessen) der Bürger verletzt, sollen unter Strafe gestellt werde=
n
und bestraft
werden dürfen. Dabei ging diese Forderung nicht nur gegen das feudal=
e
Gesinnungsstrafrecht. Es ging - nicht nur Feuerbach - darum, daß all=
ein
eine
Handlung einen objektiven, überprüfbaren Maßstab für eine Strafbarke=
it
und
Bestrafung abgeben kann.

4) Schließlich gehört hierzu auch das Erfordernis einer
Verhältnismäßigkeit, einer
Proportion, von strafbarer Handlung und Strafe (Grundsatz der
Proportionalität);
diese Forderung, dieses Prinzip war zum einen an den Gesetzgeber
gerichtet, daß
er im Strafgesetz(buch) nur solche Strafen vorsieht, die der Schwere=
der

betreffenden gesetzlich beschriebenen Handlung entsprechen, aber
durchaus auch
an den Richter, der im Rahmen des Gesetzes eine der Tat proportional=
e
Strafe
finden soll.

Dieses klassische Strafrecht des bürgerlichen Liberalismus war als
zeitgemäße
Alternative gegen die überkommene feudale bzw. feudal-absolutistisch=
e
Willkür
auf dem Gebiete des Strafrechts gerichtet.

Die vorgenannten so im wesentlichen auch international anerkannten
Grundsätze
neuzeitlichen Strafrechts, des Strafrechts des bürgerlichen
Liberalismus, gewannen
im 19. Jh. allenthalben an Boden - Feuerbachs bayrisches Strafgesetz=
buch
erlangte
in der Kriminalgesetzgebung Modellcharakter - und sie wirken darüber=

hinaus in
die Gegenwart.


V.

Aber, so wie im Recht überhaupt im Zusammenhang mit dem Übergang vom=

vormonopolistischen Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperiali=
smus

markante Veränderungen eintraten, so finden wir derartigen Wandel au=
ch
im
Strafrecht.

So wie sich ökonomisch dieser Übergang zum Imperialismus durch, auch=
im
Weltmaßstab, also global, wachsende Vorherrschaft und Vormacht der
großen
Monopole gekennzeichnet ist, so dominieren diese zunehmend auch auf =
dem
Gebiete des Rechts.

Ihnen genügt nicht mehr, daß sie bereits kraft ihrer ökonomischen
Überlegenheit
auch bei Beachtung der Gleichheit vor dem Gesetz und dem Gericht
regelmäßig
überlegen bleiben, sie nehmen selbst unmittelbar Einfluß auf die
Gesetzgebung
(über ihre Vertreter im Parlament und in der Exekutive oder durch ih=
re
Lobbyisten)
oder sie schaffen - die Vertragsfreiheit außer Kraft setzend - auf d=
em
Gebiet des
Vertragsrechts ihnen genehme Allgemeine Geschäftsbedingungen für (bz=
w.
gegen)
die »Verbraucher«, die diese um den Preis des Vertragsabschlusses
annehmen
müssen, andernfalls sie leer ausgehen (Banken, Versicherungen,
Handelsunternehmen usw.) oder es werden mit gleicher Wirkung
Standard(Formular-)Verträge entwickelt, die z.B. den Vermieter
begünstigen.


VI.

Auf dem Gebiete des Strafrechts ist dieser Wandel zum imperialistisc=
hen
Strafrecht, das wir als Negation des klassischen liberalen Strafrech=
ts
kennzeichnen
wollen, naturgemäß weniger durchsichtig, da des Zusammenhang zwische=
n
Ökonomie und Strafrecht weniger vermittelt ist als der zwischen Ökon=
omie
und
Eigentum und Vertrag (den Marx im »Kapital« untersucht).

Verbrechen und Kriminalität werden ganz allgemein als zu mißbilligen=
de
und als
im Interesse der Allgemeinheit zu bekämpfende Erscheinungen angesehe=
n.

Ein Zusammenhang zur Ökonomie, zum Übergang des vormonopolistischen
Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus wird weder
vermutet, noch
gesehen.

Tatsächlich vollzog sich die Negation des klassischen Strafrechts du=
rch
das
imperialistische Strafrecht in differenzierten Formen. Insbesondere
wurde fast nie
offen gegen die vorgenannten Grundsätze des klassischen Strafrechts
vorgegangen.

Allein den Hitlerleuten, dem NS-Staat, war es vorbehalten, den
elementaren
Rechtsgrundsatz der Gleichheit ganz offen über Bord zu werfen, indem=
für

»Untermenschen«, für Nichtarier besondere Gesetze (Sondergesetze)
geschaffen
wurden, so namentlich für Juden und Polen. Sie wurden ganz offen
außerhalb des
(normalen) Gesetzes gestellt. Ebenso offen warf der NS-Staats das
Prinzips der
Gesetzlichkeit im Strafrecht über Bord, und zwar durch Einführung de=
r
Analogie
zuungunsten des Täters im Jahre 1935: fürderhin sollte der
»Grundgedanke« eines
Strafgesetzes und das »gesunde Volksempfinden«, d.h. die Nazi-Ideolo=
gie,
zur
Strafverfolgung und Bestrafung genügen.

Daß der deutsche Hitlerfaschismus über die »legale« Strafverfolgung =
(mit
40 000
Todesurteilen) hinaus außerhalb von Gesetz und Justiz, nicht nur in =
den
KZs, offen
faschistischen Terror und Völkermord betrieb, muß als bekannt
vorausgesetzt
werden.

Ansonsten wurde der Grundsatz der Gesetzlichkeit im imperialistische=
n
Strafrecht
kaum offen attackiert.


VII.

Die Negation des Strafrechts des bürgerlichen Liberalismus durch das=

imperialistische Strafrecht ist vielmehr durch vielfältige Formen de=
r
Auflösung
der bürgerlichen Gesetzlichkeit gekennzeichnet.

Diese Auflösung der bürgerlichen Strafgesetzlichkeit ist vornehmlich=
an
folgenden
Entwicklungen des Unterlaufens der Gesetzlichkeit ablesbar:

1) Zum einen wurde die Rolle des Richters verändert, erhöht; seine
Bindung an das
Gesetz und seine Unterworfenheit unter das Gesetz wurde - auch im
Strafrecht -
gelockert. Ihm, und d.h. in der Praxis namentlich den höchsten
Gerichten, dem RG
und dem BGH, wurde angetragen, übertragen und zugemutet, »Lücken« de=
s
Gesetzes - nicht nur im Wege der Auslegung - zu schließen und
»Rechtsfortbildung« zu betreiben. Vielleicht kann man solches als
»versteckte«
Analogie bezeichnen.

Im sog. Soraya-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom
14.02.1973
wird erklärt: Wenn das geschriebene Gesetz seine Funktion nicht erfü=
llt,
dann
schließt der Richter die Lücke »nach den Maßstäben der praktischen
Vernunft und
den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinsch=
aft.

Auf dem 15. Deutschen Richtertag im Jahre 1991 verlangte der damalig=
e
Bundesjustizminister Kinkel von den (bundesdeutschen) Richtern, eine=

Verjährung
politischer Straftaten in der früheren DDR zu verhindern, weil der
Gesetzgeber
»aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Problems der Rückwirkung ni=
cht
tätig
werden« könne. Also sollten die Richter - anstelle des an sich
zuständigen
Gesetzgebers - bei DDR-Bürgern den klassischen Grundsatz der
Strafgesetzlichkeit(nullum crimen, nulla poena sine lege) beseitigen=
.

Solches tat dann auch - dem BGH folgend - das BVerfG mit seiner
Entscheidung
vom 24.10.1996: Das an sich absolute Rückwirkungsverbot (Art.103 Abs=
. 2
GG),das stets nur Individuen schützt, gelte dann nicht mehr, wenn »d=
er
Staat« -
gemeint ist die DDR - »extremes staatliches Unrecht setzt«.

In Strafverfahren gegen ehemalige Richter und Staatsanwälte der DDR
haben
bundesdeutsche Richter aus dem eindeutigen gesetzlichen
Tatbestandsmerkmal
»gesetzwidrig« des § 244 im DDR-StGB »rechtswidrig« gemacht, um entg=
egen

dem Wortlaut des Gesetzes zu verurteilen.

Ähnlich wurde die Vorschrift des DDR-Strafrechts,in der die mittelba=
re
Täterschaft klar und eindeutig beschrieben war, beiseitegeworfen, we=
il
sie der
erstrebten Verurteilung von DDR-Bürger, namentlich von Vorgesetzten =
von
Grenzsoldaten) entgegenstand; statt des maßgeblichen DDR-Gesetzes zo=
g
der BGH
die unscharfe bundesdeutsche Vorschrift heran,um mit einer
abenteuerlichen
»subjektivistischen« Konstruktion eine Verurteilung der Angeklagten
zustandezubringen .

Die in vielen Fällen bereits eingetretene Verjährung von verfolgten
angeblichen
Straftaten in der DDR wurde beseitigt, indem sich der BGH auf eine
Entscheidung
des NS-RG aus dem Jahre 1943 stützte, in dem dieses RG die Verjährun=
g zu
einer
bloß prozessualen Regelung herabstufte, so daß das auch von Herrn Ki=
nkel

gesehene Problem des Rückwirkungsverbots gar nicht stünde.

Dem Ausbau dieses Richterrechts - anstelle der Unterworfenheit des
Richters unter
das Gesetz - diente einerseits der zunehmende Einsatz auslegungsfähi=
ger
Begriffe
(so nicht nur im Wirtschafts- und Umweltstrafrecht, sondern insbeson=
dere
im
politischen Strafrecht).

Zum andern förderten solche Konzepte, wie die »normative Schule« mit=

ihrer
normativen, wertabhängigen und wertausfüllungsbedürftigen Auffassung=
vom
Recht
Entwicklungen des Unterlaufens der Gesetzesbindung des Richters.

So wurde der Richter nicht mehr nur als »Mund des Gesetzes«
(Montesqueu), als
Vollstrecker des Gesetzes, ggf. als »reine Subsumtionsmaschine«
angesehen,
sondern das Gesetz zum nur »Halbfabrikat« abgewertet;erst durch den
Richter
werde es zu einem fertigen Produkt.

Weiter wurde der Grundsatz der Gesetzlichkeit und der Gesetzesbindun=
g
des
Richters durch verschiedene Arten der Subjektivierung unterlaufen. Z=
u
diesem
Zweck wurden verschiedene »subjektive« Theorien entwickelt, die es d=
em
Richter
erlauben, ohne Bindung an objektiv nachprüfbare Kriterien nach seine=
r
Sichtweise
zu entscheiden; diese aber entspricht - schon wegen der sozialen
Herkunft der
Richter - den Wertvorstellungen und der Ideologie der Herrschenden.

Schuld zählt als »Vorwerfbarkeit« - die der Richter konstruiert; die=

»finale
Handlungslehre« eines Welzel, der gleich zu Beginn der NS-Zeit diese=

begrüßte
und verherrlichte, stellte auf das (vom Richter zu definierende) Zie=
l
einer Handlung
ab, und also nicht mehr auf das äußere, objektiv nachprüfbare
Tatgeschehen.

Zu Beginn der 50er Jahre entwickelte der BGH seine Lehre vom
»Verbotsirrtum«,
die sich dazu eignete, NS-Verbrechen zu »entschuldigen«; schon um di=
e
Jahrhundertwende kamen subjektive Versuchs- und Teilnahmelehren auf,=

nach
denen der Richter nach seiner Vorstellungswelt und nicht nach objekt=
ivem
Befund
entscheidet, ob strafbarer Versuch bzw. ob Täterschaft oder nur
Teilnahme
(Anstiftung bzw. Beihilfe) vorliegt.

Operiert wird mit dem »Täterwillen«, damit ob jemand - nach Ansicht =
des
Richters - die Tat »als eigene« oder »als fremde« gewollt habe; hier=
zu
gehört auch
die »Rechtsfigur« des »Hintermannes«, die herhalten mußte, um Mitgli=
eder
des
Politbüros des ZK der SED und des Nationalen Verteidigungsrates der =
DDR
verurteilen zu können; denn nach DDR-Recht war eine Strafbarkeit die=
ser
aus den
verschiedensten Gründen ausgeschlossen.
Hinzukam die zunehmende Verwendung subjektiver Tatbestandsmerkmale, =
wie
Absicht und Gesinnung; es wurde bzw. wird unter Strafe gestellt, was=
an
sich
straflos war bzw. ist und erst durch die unterstellte böse, z.B.
hochverräterische,
Absicht zu einer Straftat gemacht wird. Mit der »Gesinnung, die aus =
der
Tat
spricht,« (§ 46 StGB/BRD) hat der Richter eine Handhabe für die
Strafzumessung.

2) Zum andern wurde das Tatprinzip ausgehebelt, und zwar mit dem
Banalargument, es werde doch nicht die Tat, sondern der Täter bestra=
ft.
Insbesondere unter dem Einfluß Franz von Liszts wurden anthropologis=
che
und
soziologische Theorien entwickelt, in deren Konsequenz einem
Täterstrafrecht Tor
und Tür geöffnet wurde. Es sollte nicht mehr die Proportionalität vo=
n
Tat und
Strafe zählen, sondern die »Gefährlichkeit des Täters« sollte
entscheidend werden,
zumindest an Gewicht gewinnen.

In der NS-Zeit wurde der § 20 a StGB eingeführt, der den »gefährlich=
en
Gewohnheitsverbrecher« betraf und rigide Maßnahmen der Sicherung,
darunter die
Sicherungsverwahrung, zuließ. Erst 1969 wurde dieser § 20 a aus dem
bundesdeutschen Strafrecht gestrichen. (In der DDR war diese Vorschr=
ift
von
Anfang an für unanwendbar erklärt worden.)

Außerdem wurde - ebenfalls in der NS-Zeit - neben und statt dem
Strafensystem ein
System von Maßregeln der Sicherung und Besserung eingeführt, das -
modifiziert -
im bundesdeutschen Strafrecht fortbesteht, einschließlich der o.g.
Sicherungsverwahrung, und das weniger an klassische
Strafrechtsprinzipien,wie
das Tat und das Tatproportionalitätsprinzip, gebunden ist (hier steh=
t
der
Sicherungszweck im Vordergrund).

Es liegt auf der Hand, daß das Maßregelsystem - im Unterschied zum
klassischen
Tatstrafrecht - dem Richter viel Spielraum läßt, letztlich eine
lebenslange
Verwahrung zuläßt, ohne daß auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt
wurde.

3) Zu nennen sind des weiteren auch verschiedene Möglichkeiten der
Lockerung
der gesetzlichen Strafdrohungen durch Erweiterung der richterlichen
Entscheidungsmöglichkeiten. Man spricht von Flexibilisierung der
gesetzlichen
Strafdrohungen.

Auch die »Einführung« von Strafzwecken (Spezial- bzw. Generalprävent=
ion)

eröffnet dem Richter die Möglichkeit, derart kaum faßbare Gesichtspu=
nkte
für die
Strafzumessung heranzuziehen.

Wenn bei verurteilten DDR-Hoheitsträgern derartige Strafzwecke jegli=
cher

Grundlage entbehren, weil Wiederholungstaten absolut ausgeschlossen
sind,
greifen bundesdeutsche Gerichte wieder (in schöne Worte verpackt) au=
f
Sühne
oder Vergeltung zurück.


VIII.

Weiterhin muß die Ausweitung des Strafrechts im Imperialismus gegenü=
ber
dem
Strafrecht des bürgerlichen Liberalismus hervorgehoben werden, das s=
ich
darauf
beschränkte, nur faßbare Verletzungen der Freiheit (der Interessen u=
nd
Rechte) der
Bürger als Straftaten zu erfassen und mit Strafe zu bedrohen.

Charakteristisch ist für das »moderne« imperialistische Strafrecht d=
ie
Vorverlegung des Strafrechts, so durch Einführung von
Gefährdungstatbeständen
(während klassisch grundsätzlich nur Erfolgsdelikte strafbar waren);=
das
Vorliegen
einer u.U. nur abstrakten Gefährdung befindet der Richter. Hierzu ge=
hört
auch das
Unter-Strafe-Stellen von sog. »Organisationsdelikten«, kraft dessen
allein die vom
Richter befundene »Zugehörigkeit« zu der betreffenden Organisation (=
z.B.
in den 50
Jahren in der BRD zur FDJ) ohne weitere konkrete Handlung zu einer
Verurteilung
ausreichte

Mit der Ausweitung des Strafrechts (besonders auch für den Bereich d=
er
sog.
»Organisierten Kriminalität«) wird die Abgrenzung zwischen präventiv=

ausgerichtetem Polizeirecht und auf die Reaktion auf eine begangene
Straftat
begrenztem Strafrecht immer unschärfer.

Hierzu gehört auch die verstärkte Verwendung solcher Begriffe, wie
wehrhafte
Demokratie bzw. Wehrhaftigkeit des Rechtsstaates und law and order.

Generell wird - besonders seit der Mitte der 70er Jahre in der
Bundesrepublik -
ein Abbau an Rechtsstaatlichkeit und eine Aushöhlung von
Verfassungsgrundsätzen
beklagt und die Sorge der Herausbildung eines Polizeistaates in dies=
er
Republik
thematisiert.

All dies sei zwar zu bedauern, aber notwendig geworden; den
»Sachzwängen«
müsse man sich fügen.


IX.

Motiviert bzw. begründet werden derartige vielfältige und ganz
erhebliche
Veränderungen des Strafrechts, die uns dazu berechtigen, von einer
Negation des
klassischen Strafrechts zu sprechen, mit der wachsenden Kriminalität=
,
besonders
auch mit der »Organisierten Kriminalität« ,was schon fast zu einem
Schlagwort
wurde.

Die Frage nach den Ursachen dieser gewachsenen Kriminalität, besonde=
rs
auch der
Jugendkriminalität, wird von den Politikern und auch den meisten
Strafrechtlern
nicht gestellt - obwohl viele seriöse Untersuchungen den Nachweis
führen, daß die
Ursachen derselben in eben dieser Gesellschaft, dem Imperialismus, z=
u
finden sind,
der nur zu gern zum scharfen Schwert des Strafrechts greift.

Seriöse Kriminologen und Strafrechtler wissen schon lange und machen=

seit vielen
Jahren immer wieder deutlich: Eine gute Sozialpolitik - eben soziale=

Vorbeugung -
ist die beste Kriminalpolitik!
Aber eine gute Sozialpolitik paßt nicht in diese Gesellschaft.

Nachgewiesen ist auch, durch die Sanktionsforschung, daß schärfere
Strafen kaum
etwas bewirken, daß - was schon vor 200 Jahren bekannt war - der
vorbeugende
(präventive) Sinn der Strafe keineswegs in ihrer Härte liegt, sonder=
n
in ihrer
Unvermeidlichkeit.

Der verschärfte Einsatz des Strafrechts wird demgegenüber gerade auc=
h
heutzutage
dem (politischen) Zweck dienstbar gemacht, die Öffentlichkeit
fehlzuorientieren,
irrezuführen, um die sozialen Gründe der Kriminalität und vieler and=
erer

Gebrechen dieser Gesellschaft zu verdecken, und gleichzeitig dazu,
Gründe und
Vorwände zu finden, um den Machtapparat des Staates (besonders Justi=
z
und
Polizei) aufzurüsten.

Derartige Kriminalgesetzgebung erweist sich regelmäßig als symbolisc=
her
Akt, der
- zur Beruhigung der Öffentlichkeit - eine Alibifunktion erfüllt.

Das erleben und erfahren wir, auch in der Bundesrepublik, seit über
zwanzig Jahre.

Auch dieser Ausbau des Machtapparates des imperialistischen Staates
stellt eine
Negation dar, nämlich zum vormonopolistischen Staat, der sich eben i=
m
Interesse
der Bürger, gerade auch der Bourgeois, sehr zurückhielt und im Ideal=
fall
ein
laissez-faire-Staat war.

In diesem Beitrag kann nicht auf das Strafverfahrensrecht und die
Strafverfahrenspraxis eingegangen werden. Diese sind jedoch deshalb =
so
außerordentlich wichtig, weil das Strafrecht, das sog. materielle
Strafrecht, erst im
Strafprozeß und nach Maßgabe des Strafverfahrensrechts zur Wirklichk=
eit
wird.

Ebendeshalb wird der - als Negation bezeichnete - Wandel des Strafre=
chts
des
bürgerlichen Liberalismus zum imperialistischen Strafrecht von einer=

parallelen
Negation im Bereich des Strafverfahrens und des Strafverfahrensrecht=
s
begleitet
und unterstützt. Gerade auf diesem Gebiet fand und findet ein massiv=
er
Abbau des
Rechtsstaates und ein sichtbarer Wandel zum Polizeistaat statt, auch=

dadurch daß
Staatsanwaltschaft und Gerichte zunehmend ins Schlepptau der Polizei=

geraten.

Auf dem Gebiete des Strafprozesses ist also die Negation des klassis=
chen

Strafverfahrens des bürgerlichen Liberalismus besonders ausgeprägt.