Zwei Interviews von J. Elsaesser
ueber die innenpolitische Lage in Serbien

[ Juergen Elsaesser e' l'autore di
Menzogne di guerra
Le bugie della NATO e le loro vittime nel conflitto per il Kosovo
Napoli, La città del sole, 2002
190 p., 21 cm., ISBN 8882921832
Una sua tournee in Italia e' prevista per i primi di aprile, a cura del
CNJ. Nelle due interviste che seguono, Elsaesser si occupa della
evoluzione recente della situazione politica in Serbia... ]

1. Serbische Sozialisten von Radikalen überflügelt. Warum ist die
Linken so schwach? Interview mit Vlado Nadazdin (15/1/2004)

2. Kommt jetzt Serbiens Berlusconi? Interview mit Slobodan Reljic
(31/1/2004)

Beide Artikeln aus
http://www.jungewelt.de und
http://www.juergen-elsaesser.de/


=== 1 ===

Junge Welt (Berlin), 15/1/2004

Vlado Nadazdin

Serbische Sozialisten von Radikalen überflügelt
Warum ist die Linken so schwach?


BU: Vlado Nadazdin war bis zum Oktober 2000 jugoslawischer
Generalkonsul in Düsseldorf und Ratgeber von Präsident Milosevic u.a.
bei den Verhandlungen von Dayton. Letztes Wochenende sprach er auf der
Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt.

JW: Bei den serbischen Parlamentswahlen Ende Dezember bekam die
Sozialistische Partei (SPS) über sieben, die Radikale Partei (SRS) über
27 Prozent. Wie bewerten Sie das?

VN: Die Wahl war in erster Linie eine Niederlage DOS-Parteien, die das
Land nach dem Sturz von Milosevic regiert und immer tiefer ins Elend
geführt haben.

JW: SPS und SRS, die unter Milosevic eine Koalitionsregierung gebildet
hatten, lagen dieses Mal zusammen bei etwa 35 Prozent. Bei den
Präsidentschaftswahlen im September 2000, die zu Milosevics Sturz
führten, hat dieser aber noch mehr als 40 Prozent bekommen.

VN: So kann man nicht rechnen. Damals stand ja Milosevic als Person zur
Wahl, diesmal die Parteien. Milosevic ist Gefangener des Haager
Tribunals.

JW: Aber Milosevic war auch dieses Mal Spitzenkandidat der SPS.

VN: Wäre er das nicht gewesen, hätte die SPS noch viel weniger Stimmen
bekommen. Aber die Parteiführung unterstützt die Linie ihres
inhaftierten Vorsitzenden nicht, und das haben die Wähler gespürt und
deswegen nur zu einem kleinen Teil SPS gewählt. Die PDS hat einen Gysi,
bei der SPS gibt es fünf davon. Alle wollen reformieren und
modernisieren nach westlichen Vorstellungen. Viele SPS-Wähler gingen
deshalb zu den Radikalen. Und nach der Wahl hat die SPS-Spitze die
gewonnenen Parlamentssitze ausschließlich an ihre Günstlinge verteilt
und keinen von den Leuten berücksichtigt, die Milosevic vorgeschlagen
hat. Auch er selbst – obwohl der Spitzenkandidat – soll keinen
Parlamentssitz bekommen.

JW: Sie meinen, die SPS hätte ihm einen der gewonnenen Parlamentssitz
zuweisen sollen, obwohl er ihn als Haager Häftling nicht hätte
einnehmen können?

VN: Natürlich. Das wäre ein symbolischer Akt gewesen, der im Lande
populär gewesen wäre. Nach einer Umfrage der DOS-Parteien vom Dezember
ist Milosevic derzeit im Land so beliebt wie zuletzt 1989/90.

JW: Sind die Radikalen rechtsextrem?

VN: Keineswegs. Sie sind patriotisch, vertreten die nationalen
Interessen. Die Serben erinnern sich an die große Tradition dieser
Partei: Ihr Gründer Nikola Pasic war Ende des 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts viele Jahre Premierminister zuerst des Königreiches
Serbiens, dann nach 1918 des Königreiches Jugoslawiens. Nach der
Neugründung 1990 hat die SRS an diese Tradition angeknüpft.

JW: Aber Vojislav Seselj, der die Partei in den 90er Jahren führte, war
im kroatischen und bosnischen Bürgerkrieg mit seinen Paramilitärs an
Kriegsverbrechen beteiligt.

VN: Das behauptet das Haager Tribunal, wo er seit letztem Februar in
Haft sitzt. Er hat sich übrigens freiwillig gestellt, um die gegen ihn
gerichteten Vorwürfe zu entkräften. Bisher ist ihm das ganz gut
gelungen. In einem Bürgerkrieg gibt es immer Verbrechen, von allen
Seiten. Es ist nicht objektiv, die Serben oder einen Milosevic oder
einen Seselj für alleinverantwortlich zu erklären.

JW: Im Jahre 2002, als Milosevic schon in Den Haag einsaß, hat er bei
der Präsidentschaftswahl zur Wahl von Seselj aufgerufen. Aber die
Kandidatur von dessen Nachfolger Tomislav Nikolic im November 2003 fand
nicht mehr seine Unterstützung. Warum?

VN: Die Radikalen waren ja in den Neunzigern lange Jahre zusammen mit
den Sozialisten in der Regierung, Milosevic hat mit Seselj trotz vieler
Meinungsverschiedenheiten immer wieder eng zusammengearbeitet. Warum er
Nikolic nicht unterstützt hat, könnte auch damit zusammenhängen, daß er
in der Zelle zu wenig Informationen über ihn hat. Für mich ist
interessant, daß die Radikalen unter Nikolics Führung das Sozial- und
Wirtschaftsprogramm der Sozialisten praktisch übernommen haben. Als der
im Wahlkampf in einer Talkshow darauf angesprochen wurde, antwortete er
ganz souverän: Warum sollten wir nicht das von der SPS übernehmen, was
gut ist?

Interview: Jürgen Elsässer


=== 2 ===

Junge Welt (Berlin), 31/1/2004

Regierungsbildung verzögert:

Kommt jetzt Serbiens Berlusconi?  

Interview mit Slobodan Reljic. Er ist Chefredakteur des serbischen
Nachrichtenmagazins NIN. Die Zeitschrift ist das balkanische Pendant
zum Spiegel und feierte vor kurzem ihren 100. Geburtstag  


F: Die deutschen Nachrichtenagenturen meldeten am Freitag, daß sich die
pro-westlichen Parteien Serbiens auf eine neue Regierung geeinigt
hätten.

Das ist noch nicht ganz klar. Eine Einigung ist viel wahrscheinlicher
als noch vor einigen Tagen, aber viele Details sind weiter umstritten.

F: Wie sieht die wahrscheinliche Regierungskoalition aus?

Es sollen folgende Parteien beteiligt sein: die Demokratische Partei
Serbiens des letzten jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica, die
Demokratische Partei des noch amtierenden Premiers Zoran Zivkovic und
die wirtschaftsliberale Partei der G-17 um Miroljub Labus. Alle diese
Gruppierungen sind aus dem zerfallenen Oppositions- und späteren
Regierungsbündnis DOS hervorgegangen. Vierter Partner in der Koalition
wäre das Bündnis aus der Serbischen Erneuerungsbewegung SPO des
Monarchisten Vuk Draskovic und der Partei Neues Serbien. Neuer
Ministerpräsident soll Kostunica werden.

F: Bis vor kurzem hat Kostunica ein Bündnis mit den Demokraten
ausgeschlossen – mit dieser Partei hatte er sich schon überworfen, als
sie noch vom später ermordeten Premier Zoran Djindjic geführt wurde.

Aber der Druck auf Kostunica war enorm. Es gab zum einen Pressionen aus
dem Ausland, von der Europäischen Union und aus den USA, eine stabile
Regierung unter Ausschluß der Radikalen Partei zu bilden. Obwohl diese
Partei mit über 27 Prozent als der eigentliche Sieger aus dem Urnengang
am 28. Dezember hervorgegangen war, ist sie für den Westen aufgrund
ihrer Kritik an der NATO und am Haager Tribunal nicht tragbar. Und es
gibt zum anderen einen gewaltigen Unmut in der Bevölkerung. Wenn die
Regierungsbildung scheitert, müssen Neuwahlen angesetzt werden, und
dabei könnten die Radikalen vielleicht weiter zulegen.

F: Die G-17 würde wohl in der neuen Koalition mit der
Wirtschaftspolitik betraut werden. Was kann ihr Frontmann Labus gegen
die ökonomische Misere unternehmen? Wie wird sich dieser neoliberale
Chicago-Boy mit dem sozialer eingestellten Kostunica einigen?

Labus hat gute Kontakte zur CDU und wollte eigentlich gerne selbst
Premier werden. Als Finanzminister der G-17 war Mladjan Dinkic
vorgesehen, bis letzten Sommer Chef der Nationalbank. Doch er hat einen
Fehler gemacht und sich mit einem der reichsten Männer Serbien
angelegt, Bogoljub Karic. Dessen Einfluß reicht so weit, daß sich die
noch amtierende Regierung am Donnerstag in diesem Streit auf seine
Seite gestellt hat. Damit dürften Dinkics Chancen auf ein Ministeramt
dahin sein.

F: Wie mächtig ist dieser Karic?

Den vier Karic-Brüdern gehören unter anderem der serbische
Mobilfunkbetreiber Mobtel, eine große TV-Kette und zahlreiche
Unternehmungen in Rußland. In Kroatien und in Mazedonien wurde Bogoljub
Karic von der Staatsspitze empfangen – das zeigt seinen Einfluß. Er ist
Vorsitzender der »Vereinigung der Industriellen und Arbeitgeber
Serbiens«. Aus dem Versagen der bisherigen Parteien hat er den Schluß
gezogen, künftig mit einer eigenen Formation bei den Wahlen anzutreten
– Napred Serbija (Vorwärts Serbien). Das Ganze ist dem Vorbild von
Silvio Berlusconi nachempfunden, dem es mit seiner Kapitalmacht
gelungen ist, die gesamte Parteienlandschaft Italiens aufzurollen und
selbst Ministerpräsident zu werden.

F: Karic soll früher Milosevic finanziert haben.

Er hat sowohl Milosevic als auch die Anti-Milosevic-Kräfte unterstützt.

F: Im Unterschied zu Berlusconi scheint er aber nicht so eindeutig
prowestlich orientiert zu sein – er hat sehr gute Kontakte nach Rußland.

Er ist ein Chamäleon und für alles offen. Er hat gute Kontakte nach
Rußland, aber auch in die EU und in die USA. In Belgrad geht er bei den
westlichen Botschaftern ein und aus.

F: Ihre Prognose?

Wenn es nicht schnell eine neue Regierung gibt und diese Regierung die
wirtschaftliche Lage nicht bessert, werden die Radikalen und die neue
Partei von Karic bei der nächsten Wahl profitieren.