Da: "Klaus von Raussendorff" <redaktion @ aikor.de>
Data: Mar 2 Nov 2004 16:57:01 Europe/Rome
Oggetto: Milosevic-Prozess: "Die Eigenart der Veranstaltung"

Liebe Leute,

zum Stand des Milosevic-Prozesses dokumentiere ich:


»NIEDERLAGE FÜR DAS GERICHT«
SLOBODAN MILOSEVIC DARF SICH VOR UN-TRIBUNAL IN DEN HAAG WIEDER SELBST
VERTEIDIGEN. AUCH BERUFUNGSINSTANZ WAR MARKE EIGENBAU DES GERICHTS.
Ein Gespräch mit Klaus Hartmann*
junge Welt v. 02.11.2004
http://www.jungewelt.de/2004/11-02/019.php
Interview: Peter Wolter
[ 1 ]

„DIE EIGENART DER VERANSTALTUNG“:
WARUM DAS HAAGER TRIBUNAL SICH NICHT LEISTEN KANN, MILOSEVIC DAS RECHT
AUF PERSÖNLICHE VERTEIDIGUNG ZU GEWÄHREN.
Von Tiphaine Dickson und Aleksandar Jokic
Centre for Research on Globalisation v. 24. Oktober 2004
http://globalresearch.ca/articles/DIC410A.html
[ 2 ]

KEIN EXKLUSIVES RECHT AUF FAIRNESS
TRIBUNAL IN DEN HAAG: GEHT DER MILOSEVIC-PROZESS OHNE DIE ZEUGEN DES
ANGEKLAGTEN ZU ENDE?
Von Germinal Civikov
Freitag v. 15. Okt. 04
http://www.freitag.de/2004/43/04430801.php
[ 3 ]


S p e n d e n a u f r u f :
der Deutschen Sektion des
Internationalen Komitees für die Verteidigung von Slobodan Milosevic
www.free-slobo.de

Das Haager "Tribunal" will Slobodan Milosevic endgültig zum Schweigen
bringen

Ursprünglich sollte im Juli 2004 Slobodan Miloševics Verteidigung
beginnen, für die man ihm nur drei Monate Vorbereitungszeit zugestanden
hatte, während die "Ankläger" seit 1994 mit einem personell und
finanziell gewaltigen Apparat gegen ihn ermittelten. Die Dauer seiner
Verteidigung wurde auf 150 Tage beschränkt - die Hälfte der Zeit, die
die "Ankläger" in Anspruch nahmen. Der uralte Rechtsgrundsatz der
Waffengleichheit zwischen Anklägern und Angeklagtem wird mit Füßen
getreten. Aber damit nicht genug.

Ende August 2004 konnte Slobodan Miloševic noch mit einer etwa
vierstündigen eindrucksvollen Erklärung seine Verteidigung eröffnen.
Doch unmittelbar danach, am 02.09.04, nahm das "Tribunal" unter
Missachtung der eigenen Statuten (Artikel 21 4 d) den schlechten
Gesundheitszustand, den es selbst zu verantworten hat, zum Vorwand,
Slobodan Miloševic das Recht auf Selbstverteidigung zu nehmen.

Damit entsprachen sie dem langgehegten Wunsch der "Anklage", Slobodan
Miloševic endlich zum Schweigen zu bringen, da der "Angeklagte" nicht
nur die falschen Anschuldigungen gegen ihn entkräftet, sondern auch die
wahren Schuldigen an der jugoslawischen Tragödie benannt hatte: die
nach Einfluss auf dem Balkan strebenden Großmächte, die über zehn Jahre
hinweg mit allen erdenklichen Mitteln die Zerschlagung Jugoslawiens
betrieben, zuletzt 1999 mit einem offenen Angriffskrieg, gefolgt von
der Installation einer Marionettenregierung in Serbien und Montenegro
im Jahr 2000.

Nicht einmal die Nazis im "Reichstagsbrandprozess" oder die
Apartheid-Rassisten in den Rivonia-Prozessen haben sich erlaubt, Georgi
Dimitroff bzw. Nelson Mandela einen Zwangsverteidiger aufzuzwingen, um
ihnen das Recht auf Selbstverteidigung zu nehmen.

§ Gegen diesen neuerlichen Rechtsbruch in Den Haag muss die
Verteidigungsarbeit intensiviert werden!

§ Gegen die geballte Macht des NATO-Apparates steht allein die Stimme
von Slobodan Miloševic - und unsere Unterstützung seines
Rechtsberaterteams. Und dieser Stimme muss im Namen der Gerechtigkeit
wieder Gehör verschafft werden.

§ Jede noch so kleine Spende wird dringend benötigt. Die Aggressoren
dürfen nicht die Geschichte schreiben! Jede Spende für den
Rechtshilfefonds ist ein Beitrag zur Verteidigung des Völkerrechts!

Wir bitten um Spenden auf das Konto

Peter Betscher
Kennwort "Rechtshilfefonds"
Stadt- und Kreissparkasse Darmstadt
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... und in der Schweiz:

Vereinigung für Internationale Solidarität e.V.
4000 Basel
PC 40-493646-5
Kennwort: Rechtshilfefond


Mit internationalistischen Grüßen
Klaus von Raussendorff

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Informationsdienst der Vereinigung für Internationale Solidarität (VIS)
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[ 1 ]

junge Welt v. 02.11.2004
http://www.jungewelt.de/2004/11-02/019.php
Interview: Peter Wolter

»NIEDERLAGE FÜR DAS GERICHT«
SLOBODAN MILOSEVIC DARF SICH VOR UN-TRIBUNAL IN DEN HAAG WIEDER SELBST
VERTEIDIGEN. AUCH BERUFUNGSINSTANZ WAR MARKE EIGENBAU DES GERICHTS.

Ein Gespräch mit Klaus Hartmann*


F: Aus Den Haag kommt die Nachricht, daß der vor dem
»Kriegsverbrechertribunal« angeklagte ehemalige Staatspräsident
Jugoslawiens, Slobodan Milosevic, sich jetzt doch selbst verteidigen
kann. Ein Etappensieg?

Zunächst einmal ist diese Nachricht eine gute Nachricht. Sie markiert
eine Niederlage der allzu brutalen Strategie des »Tribunals«, das
entgegen allen internationalen Normen und entgegen der eigenen
Prozeßordnung dem Angeklagten das Recht auf Selbstverteidigung nehmen
wollte. Aber es ist schon deshalb kein Sieg für Milosevic, da es nun
die Tribunalärzte in der Hand haben, ihn krank zu schreiben und von der
Verhandlung auszuschließen, wann immer die Tribunalsregie das verlangt.

In dem Fall würde wieder ein Pflichtverteidiger eingesetzt. Es handelt
sich dabei um die Bestellung eines Zwangsverteidigers durch die
Hintertür, wenn auch nicht auf die direkte brutale Tour, mit der man
gerade gescheitert ist. Damit wollte man angeblich versuchen, den
Prozeß abzukürzen.

F: Wer ist die »Berufungsinstanz«, die diese Entscheidung getroffen hat?

Marke Eigenbau – wie alle Entscheidungen des »Tribunals«. Es schafft
seine Regeln selbst und sitzt auch in eigener Sache zu Gericht. Das
heißt, der Chef der Berufungskammer ist auch der Präsident dieses
Jugoslawien-Tribunals, Theodore Meron aus den USA.

F: Wie kam es überhaupt zu dieser Entscheidung?

Das »Tribunal« hat Milosevic just in dem Moment das Recht auf eigene
Verteidigung entzogen, als er mit dem Aufruf eigener Zeugen beginnen
wollte. Dieser Beschluß resultiert aus dem Besuch der ehemaligen US
Außenministerin Madeleine Albright bei dem Tribunalsverantwortlichen.
Die internationale Presse hat darüber kaum berichtet.

Die jetzige Entscheidung überrascht nicht, da ja die Pflichtverteidiger
vor wenigen Tagen ihren Rücktritt erklärt hatten. Sie waren
gescheitert, weil binnen zwei Monaten von über 200 Entlastungszeugen
nur fünf bereit waren auszusagen. Darüber hinaus mußten sie von
verschiedenen Anwaltskammern standesrechtliche Restriktionen
befürchten, weil sie entgegen der internationalen Rechtsstandards
überhaupt bereit waren, diesen Auftrag zu übernehmen.

F: Es wird gesagt, die Konstruktion dieses Gericht stamme von der
US-Regierung.

Die frühere Gerichtspräsidentin hat Frau Albright die »Mutter des
Tribunals« genannt. Und der frühere NATO-Sprecher Jamie Shea, der
Erfinder der »Kollateralschäden«, hat die NATO als die »Freundin des
Tribunals« bezeichnet. Das macht natürlich den politischen Charakter
dieser Veranstaltung deutlich.

F: Es war unübersehbar, daß das Gericht durch diese Weigerung der
Zeugen in eine sehr schlechte Lage manövriert worden war. Es gab
kürzlich Gerüchte, die US-Regierung erwäge einen Strategiewechsel im
Umgang mit dem Gericht. Ist das schon dieser Strategiewechsel?

Völkerrechtler aus aller Welt, auch solche, die Milosevic nicht
freundlich gesonnen sind, haben kritisiert, durch die Verweigerung der
Selbstverteidigung würden internationale Rechtsstandards in
gravierendem Maße verletzt. Damit drohte auch in der öffentlichen
Wahrnehmung eine Justizfarce. Das hat außerdem in Regierungskreisen der
USA in letzter Zeit zu Äußerungen geführt, die deutlich die
Uneffektivität dieses Tribunals beanstandeten. Es wurde laut darüber
nachgedacht, das Mandat des Tribunals zu beenden und die Fälle an die
jeweiligen Heimatländer zurückzugeben.

F: Wie finanziert sich das Gericht eigentlich?

Für das letzte Jahr liegen mir über die Zahlungsweisen für dieses
Tribunal keine Erkenntnisse vor. Wenn das Tribunal eine Körperschaft
der Vereinten Nationen wäre, dürfte es nur aus deren ordentlichem
Haushalt bezahlt werden.
Daraus kamen jedoch nur geringe Summen – den Löwenanteil bestritten die
Regierungen der USA und Saudi-Arabiens sowie private Stiftungen wie
Rockefeller, Time-Warner und die des internationalen Börsenspekulanten
George Soros


* Klaus Hartmann ist Bundesvorsitzender des Deutschen
Freidenker-Verbandes und Vizepräsident des Internationalen Komitees für
die Verteidigung von Slobodan Milosevic


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[ 2 ]

Centre for Research on Globalisation
24. Oktober 2004
http://globalresearch.ca/articles/DIC410A.html

„DIE EIGENART DER VERANSTALTUNG“:
WARUM DAS HAAGER TRIBUNAL SICH NICHT LEISTEN KANN, MILOSEVIC DAS RECHT
AUF PERSÖNLICHE VERTEIDIGUNG ZU GEWÄHREN.

Von Tiphaine Dickson und Aleksandar Jokic


Als Slobodan Milosevic nach seiner Überstellung nach Den Haag, die
einem Kidnapping gegen Lösegeld ähnlicher sah als einer Auslieferung,
aufgefordert wurde, zur Anklage Stellung zu nehmen, gab er der Kammer
des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien (ICTY)
nicht das typische „Nicht schuldig“ zur Antwort. Stattdessen entgegnete
Milosevic: „Das ist nicht mein Problem, das ist Ihr Problem.“

Und in der Tat ist die Anklage inzwischen zum Problem des ICTY
geworden. Als die Ankläger im Frühjahr nach dem Rücktritt des
Vorsitzenden Richters Richard May am Ende ihres Sachvortrags angekommen
waren, lamentierten viele in den Medien über den Fehlschlag des
Versuchs, den Beweis eines Völkermords zu erbringen, andere zeigten
sich unbeeindruckt von dem verwirrenden Bild schwacher Zeugen, die im
Kreuzverhör eines Angeklagten zusammenfielen, der durchweg darlegte,
dass das ICTY keine rechtliche oder Recht sprechende Institution ist.
Stimmen wurden laut, die zunehmend ernste Besorgnis äußerten, dass der
Prozess aus den Geleisen lief. Erwartungen schienen unerfüllt geblieben
zu sein.

Als die Phase des Sachvortrags der Verteidigung näher rückte, und
Milosevic ankündigte, er werde 1600 Zeugen aufbieten, um zu
untermauern, was er von Anfang an gesagt hatte, nämlich dass die
„Balkan-Kriege“ in Wirklichkeit ein einziger Krieg waren, und zwar
gegen Jugoslawien, geplant und ausgeführt von den Westmächten, 1999
gipfelnd in dem entsetzlichen Höhepunkt eines 78tägigen
NATO-Bombardements, da richteten die einflussreichen Förderer des ICTY
das Visier auf die bevorstehende Verteidigung und argumentierten, dass
man Milosevic das Recht, sich persönlich zu verteidigen, nun „lang
genug“ gewährt habe.

Der kämpferische Medieneinsatz war und bleibt beträchtlich und wirft
eine nahe liegende Frage auf: was steckt in der gegenwärtigen Phase der
Verhandlungen, dass eine derartige kollektive Anstrengung der Abwehr
erforderlich ist?

Die jüngste Offensive ist offensichtlich von Furcht bestimmt. Sie
stellt aber nicht nur das international verbriefte Recht der
Selbstvertretung in Frage (und damit die Freiheit, eine echte
Verteidigung vorzutragen), sondern ist darüber hinaus darauf
abgestellt, Milosevic daran zu hindern, die Illegalität des ICTY und
seiner Funktionen darzulegen. Präsident Milosevic hat in der Tat
durchweg argumentiert, dass das ICTY Apologetik für die Zerstörung
Jugoslawiens betreibt, Rechtfertigungsgründe für die Aggression liefert
und die Geschichte umschreibt. Daher die anscheinend endlosen
Anspielungen nicht auf die Gesundheitsschäden von Präsident Milosevic
sondern auf die die Beschädigung des „Ansehen des Gerichts“, seiner
„Glaubwürdigkeit“ und „Legitimität“.

Die öffentliche Lobbyarbeit des ICTY für die Anordnung der
Zwangsverteidigung von Slobodan Milosevic übernahm ein Trio strammer
ICTY-Befürworter: David Scheffer, Michael Scharf, and Judith Armatta.
Was sie vorbrachten, verriet - vielleicht unbeabsichtigt - die
eindeutig politische Natur dieser Veranstaltung.

In einem Artikel ("Enough of Milosevic’s Antics") in der International
Herald Tribune (v. 13. Juli 2004) beeilt sich David Scheffer, der
ehemalige Sonderbotschafter für Fragen von Kriegsverbrechen unter
Außenministerin Albright, Milosevic als Nicht-Menschen zu behandeln und
auf das ICTY einzuwirken, seine „Autorität“ gegen ihn durchzusetzen.
Scheffer schreibt: „Als Vorsitzender Richter verstand es der
verstorbene Richard May geschickt mit Milosevics Ausübung seines Rechts
der Selbstvertretung umzugehen, indem er ihm täglich genug Leine ließ,
sich auszusprechen, um dann plötzlich die Leine anzuziehen, wenn er zu
weit ging.“ Die eindrucksvolle Verwendung der Metapher „die Leine
anziehen“ erfolgt hier im Lichte der nur peinlich kurz zurückliegenden
Gräueltaten im Gefängnis von Abu Ghraib in Irak, wie in dem Foto von
der Soldatin Lynndie England, die ein nacktes menschliches Wesen an
einer Leine hält, für immer festgehalten. Will Scheffer auf das ICTY
einwirken, sich Abu Ghraib anzugleichen, dies aber mehr auf dem
juristischen Schlachtfeld als dem militärischen? Was immer seine
Absichten, in einer wichtigen Beziehung gibt es kaum einen Unterschied
zwischen dem physischen und dem metaphysischen Leineanziehen: beides
wurzelt fest in den primitivsten rassistischen Verhaltensweisen
gegenüber ihren zur Sache degradierten Zielobjekten. Und wer genau ist
das Zielobjekt von David Scheffers Kommentaren? Anscheinend nur
Milosevic, der auf diese Weise seiner Eigenschaft des Menschseins
entkleidet wird. Doch da ist noch ein anderes, noch wichtigeres Ziel:
die Richter und Ankläger des ICTY werden implizit daran erinnert, dass
sie bloße Werkzeuge (Sachen) des Imperiums sind. Sie täten daher besser
daran, Leistung zu erbringen.

Und was sind die Leistungen, die vom ICTY zu erbringen sind? Der
Prozess verursacht Schwindel erregende Kosten, woraus folgt, dass eine
Verurteilung erfolgen muss, und dass „Justiz“ zwingend dazu führen
muss, Milosevic mundtot zu machen, denn er ist „angeklagt wegen
Verbrechen von enormer Schwere auf dem Balkan: Völkermord, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Diese schreien nach
Sühne. Die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedsstaaten verausgaben
riesige Geldsummen für diese Verfahren für einen bestimmten Zweck,
nämlich für Justiz und nicht für politische Ausfälle und ausufernde
Verteidigungsreden.“ Es ist unklar, ob dies ein rechtliches oder
politisches Argument ist. Es könnte sein, dass Scheffers Position - im
Sinne einer neuen juristischen Herangehensweise - darin besteht, dass,
weil Milosevic der schwersten aller Verbrechen angeklagt ist, und diese
nach „Sühne schreien“, diese Tatsache an sich schon einen über jeden
vernünftigen Zweifel erhabenen Beweis für seine tatsächliche Schuld
darstellt. Denn wer mag sich schon vorstellen, dass das ICTY
leichtfertig Vorwürfe erhebt und
einen amtierenden Präsidenten mitten in einem Aggressionskrieg gegen
sein Land anklagt? Ansonsten könnten Scheffers Worte einen direkten
politischen Anspruch zum Ausdruck bringen: „Wir haben dafür bezahlt,
und wir haben sicher nicht dafür bezahlt, dass dieser Mann mit uns
umspringt.“

Scheffer befürwortet die Anordnung eines Zwangsverteidiger, “um die
Integrität des Verfahrens zu gewährleisten, das sich einem Punkt nähern
könnte, wo es zum Bruch mit der internationalen Gemeinschaft kommt.“
Die Ungeduld, die hier im Namen des Phantoms der internationalen
Gemeinschaft zum Ausdruck kommt, könnte tatsächlich gerade Scheffers
eigene sein, sowie die von Leuten seines Schlages, die mit der
Einrichtung des ICTY eng verbunden sind. Jedenfalls ist der Punkt der,
dass das ICTY keine legale Autorität hat, die über die ihm vom
Sicherheitsrat gewährten Befugnisse hinausgehen und durch seine eigene
Berufungskammer, d.h. durch sich selbst, als rechtlich gültig erachtet
worden sind. Daraus folgt: seine Autorität „muss durchgesetzt werden“.
Gerade dieses Verfahren, als solches an sich ein Rechtsmissbrauch, muss
vor „einem lähmenden Missbrauch“ geschützt werden, und zwar vor der
öffentlichen Brandmarkung durch Milosevic, und insbesondere durch seine
Zeugen: „Ein massives kriminelles Unternehmen diesen Charakters
verdient ein langes, sorgfältig entwickeltes Verfahren, das
unvermeidlich Verzögerungen erleben wird. Das ist die Eigenart der
Veranstaltung. Aber der Zeitpunkt ist gekommen, die dem Gericht
verliehene Autorität durchzusetzen und einen lähmenden Missbrauch des
Verfahrens durch Leute wie Slobodan Milosevic zu verhindern.“ Wahrlich:
„Die Eigenart der Veranstaltung“. Diese muss dringend zu Ende gebracht
werden, denn das ICTY ist im Gegensatz zu Recht sprechenden
Körperschaften in aller Welt eine „begrenzte Unternehmung“, darum
bemüht, Ermittlungen, Verfahren und Berufungsverfahren vor Ablauf einer
vom Sicherheitsrat gesetzten Frist - das ist die genannte
„Abschlussstrategie“ - im Jahre 2010 abzuschließen. Bis dahin muss eine
Verurteilung sichergestellt sein. So wie alle Vorstellungen gelaufen
sein müssen, bevor der Zirkus die Stadt verlassen kann.

Ebenso dringend ist, dass insbesondere “Serben” “die Autorität des
Gerichts respektieren” und vermutlich kann dieser Sinneswandel nur
erfolgen, wenn Milosevic mundtot gemacht und die Illegalität des
Gremiums nie wieder erwähnt wird: „Wenn die Disziplin eines kompetenten
Anwalts in den Gerichtssaal Einzug hält, würden Milosevics Serben
vielleicht lernen, die Autorität dieses Tribunals zu respektieren.“

Abschließend strapaziert Scheffer noch einmal seine Metapher der Leine,
um seinem Gedanken Nachdruck zu verleihen, dass Milosevic „dauerhaft“
zum Schweigen gebracht werden muss, da er ja irgendwie nicht-human ist:
„Milosevic ist lange genug mit dem Gericht umgesprungen. Es ist Zeit,
die viel benutzte Leine von Richter May dauerhaft anzuziehen.“

Nach Scheffers Eröffnungssalve sprach sich auch Michael Scharf,
Gastprofessor für Recht an der Case Western Reserve University und
Mitverantwortlicher bei der Schaffung des ICTY, in der Washington Post
(vom 29. August 2004) mit geradezu frösteln machender Klarheit und
unter Verwendung strikt politischer Argumente für Zwangsverteidigung
aus. ("Making a Spectacle of Himself: Milosevic Wants a Stage, Not the
Right to Provide His Own Defense"). Den mittlerweile geläufigen
Refrain, Slobodan Milosevic “spielt für das heimische Publikum”
weidlich ausschlachtend, ist Scharf empört von der Idee, dass der
nicht-vertretene Angeklagte einen Schauprozess irgendwie ausnutzen
könnte, um Unterstützung in Serbien und Montenegro zu gewinnen, wo doch
das ICTY, so erklärt er allen Ernstes, eigentlich geschaffen wurde, um
Milosevic aus der Politik zu entfernen und die Serben zu „erziehen“,
damit er und seinesgleichen für immer aus dem Verkehr gezogen sein
würden. Das sein eigenes Argument die politische Natur des ICTY
bestätigt und in aller Offenheit seine Ziele als nicht-juristische
klarstellt, hält Scharf nicht davon ab, das Verfahren als einen
„internationalen Kriegsverbrechen-Prozess“ und die Institution als
einen „Gerichtshof“ zu beschreiben.

Scharf: “Milosevics sarkastische Verteidigungsstrategie wird ihm
wahrscheinlich keinen Freispruch einbringen, aber sie ist auch nicht
auf den Gerichtshof in Den Haag abgestellt. Sein Publikum ist das
Gericht der öffentlichen Meinung zu Hause in Serbien, wo der Prozess
eine der meist gesehenen Fernsehsendungen ist, und wo Milosevics
Ansehen weiter steigt. Meinungsumfragen besagen, dass 75 Prozent der
Serben nicht meinen, dass Milosevic einen fairen Prozess bekommt, und
67 Prozent denken, dass er nicht für irgendwelche Kriegsverbrechen
verantwortlich ist. ‚Slobo Held!’ ist an Belgrads Bussen und Häusern
ein allgegenwärtiges Graffiti. Letzten Dezember gewann er in einer
landesweiten Wahl mit Leichtigkeit einen Sitz im serbischen Parlament.“

Was diese Besorgnisse und politischen Trivialitäten mit internationalem
Recht - soweit dieses als judikative Aktivität angesehen werden kann -
zu tun hat, bleibt unklar. Wenn jedoch, - an die Adresse einer
uninformierten westlichen Öffentlichkeit gerichtet, hier die Idee
vermittelt werden soll, dass das ICTY, falls es einem Mann, der ein
halbes Jahrzehnt lang auf dem Balkan der Hauptgesprächspartner des
Westens war, grundlegende international anerkannte Menschenrechte
gewährt, in seiner Mission scheitert, die Serben zu „erziehen“, dann
weiß man, was gemeint ist. Scharf bedauert die Tatsache, dass
Meinungsumfragen ergeben, dass „75 Prozent der Serben nicht meinen,
dass Milosevic einen fairen Prozess bekommt.“ Scharfs Enttäuschung über
diesen Ausdruck verbreiteten Misstrauens - das durchaus gegen die
Institution überhaupt gerichtet sein könnte - beruht auf der Annahme,
dass die öffentliche Meinung in Serbien und Montenegro irregeleitet ist
und kein rechtes Verständnis für die „Fairness“ des Verfahrens hat.
Aber wenn Scharf behauptet, dass die ICTY-Verhandlungen eine der meist
gesehenen Fernsehsendungen sind, dann bildete sich die öffentliche
Meinung doch wohl durch den Anschauungsunterricht der
Prozessverhandlungen; und dann bestünde das Problem nicht in einer im
Ausland zu verortenden kollektiven Selbsttäuschung sondern in der im
Westen herrschenden Unkenntnis darüber, wie das ICTY in seiner
täglichen Arbeit funktioniert. Die denn weitgehend nicht im Einklang
steht mit dem - durch Überzeugung oder missionarischen Eifer - im
Westen weit verbreiteten Glauben, dass die Verfahren in Den Haag an
sich fair sind.

Scharfs Sorgen wegen der Graffiti an Bussen und Häusern in Belgrad mag
auch ein Ausdruck seines Umweltbewusstsein sein. Doch jede von
„Slobo-Held!“- Losungen ausgehende Bedrohung verblasst im Vergleich zu
den Auswirkungen der NATO-Bombardierungen, und insbesondere, vor dem im
Boden und Grundwasser Serbiens und Montenegros zurückgebliebenen
abgereicherten Uran. Mag sein, dass die „serbische“ Öffentlichkeit
durch den „Gerichtshof“ noch nicht ausreichend erzogen worden ist, um
diese beunruhigende Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren, mit der
sie noch Jahrzehnte, und vielleicht Jahrhunderte zu tun haben wird.
Diese Wirklichkeit und die allgegenwärtigen Erinnerungen an die Bomben
der NATO in den Straßen von Belgrad haben vielleicht einigen Einfluss
auf die öffentliche Wahrnehmung der „Fairness“ des ICTY gehabt.

Auch wenn Scharfs Anschlag auf Milosevics Recht auf persönliche
Verteidigung ganz auf der Linie von Scheffers Forderung liegt, dass die
„Leine dauerhaft angezogen werden sollte“, gibt es doch einen wichtigen
Unterschied in der Herangehensweise. Wo Scheffer den verstorbenen
Richter May als eine Art kompromisslosen Tierbändiger schildert, stellt
Scharf ihn als einen irregeleiteten Trottel dar. Statt seine Fähigkeit
zur Disziplin hervorzuheben, beschuldigt er ihn - in einer viel
sagenden Demonstration der Degradierung der ICTY-Funktionäre,
insbesondere des verstorbenen, zu bloßen Sachobjekten - zu lasch
gewesen zu sein und irrtümlich gehandelt zu haben, als er Milosevic
überhaupt das Recht auf Selbstvertretung zugestand. Er schreibt:
„Tatsächlich alles, was mit dem Milosevic-Prozess schief gelaufen ist,
kann auf diese irrige Entscheidung zurückverfolgt werden.“

Und „schief gelaufen“ ist, dass Milosevic „geringschätzige Bemerkungen
über das Gericht“ gemacht und Zeugen „eingeschüchtert“ hat. Milosevic
erkennt das ICTY nicht an, und das hat er immer wieder gesagt. Und was
das „Einschüchtern“ angeht, so ist das bis zu einem gewissen Grade, ob
wir das gut finden oder nicht, Teil der Kunst des Kreuzverhörs. Aber
Scharfs Schwerpunkt liegt nicht so sehr auf diesen Beschwerden sondern
vielmehr auf seinen wilden Behauptungen über Milosevics wachsende
Popularität in Serbien und Montenegro.

Scharf macht völlig klar, dass das ICTY aus politischen Gründen
geschaffen wurde, befürwortet aber, Slobodan Milosevic einen Anwalt
aufzuzwingen, um ihn daran zu hindern, genau denselben Gedanken auf den
Punkt zu bringen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Milosevic
„geringschätzig“ ist, während Scharf argumentiert, dass die offenkundig
politischen Ziele des ICTY irgendwie vertretbar sind:

„Bei Schaffung des Statuts des Jugoslawien-Tribunals legte der
UN-Sicherheitsrat drei Ziele fest: erstens das serbische Volk zu
erziehen, das lange von Milosevics Propaganda irregeleitet war, und
zwar im Bezug auf die Aggressionsakte, Kriegsverbrechen und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, die von seinem Regime begangen worden sind;
zweitens nationale Versöhnung zu erleichtern, indem Milosevic und
anderen Spitzenpolitikern die Hauptverantwortung zugeschoben und
aufgedeckt wird, wie das Milosevic-Regime gewöhnliche Serben dazu
gebracht hat, Gräueltaten zu begehen; und drittens eine politische
Katharsis zu fördern und dabei neu gewählte Führern Serbiens in die
Lage zu versetzen, sich von den repressiven politischen Praktiken der
Vergangenheit zu distanzieren. Mays Entscheidung, Milosevic zu
gestatten, sich selbst zu vertreten, hat diese Ziele ernsthaft
unterhöhlt.“

Die Vorstellung, dass mit dem Recht Milosevics, sich selbst zu
vertreten, die “Ziele” der Schaffung des ICTY “ernsthaft unterhöhlt”
wurden, ist selbst für Leichtgläubige des Guten zu viel. Doch wenn
diese Ziele sind und bleiben, Slobodan Milosevic die Verantwortung
„zuzuschieben“, und die Serben in dem Glauben zu „erziehen“, wie
schlecht er war - oder wie schlecht letztlich Jugoslawien war - , dann
sind dies Ziele, die von dem Angeklagten sicherlich nicht geteilt
werden. Milosevic hat durchaus nicht die Absicht, dem ICTY behilflich
zu sein, „die Serben zu überzeugen“, dass die gegen Jugoslawien
begangenen Aggressionsakte gerechtfertigt waren. Insbesondere aber
können die von Scharf dargestellten politischen Ziel, seien sie nun
vertretbar, moralisch korrekt oder politisch zweckmäßig, nicht legal
machen, was illegal ist; sie können nicht legitim machen, was illegitim
ist, und, was das Entscheidende ist, sie können ein politisches Gremium
nicht in einen Gerichtshof verwandeln.

Wie vielleicht unvermeidlich, ordnete das ICTY die Zwangsverteidigung
an. Am 2. September wurden zwei der ehemaligen amici curiae „berufen“
(assigned), - die Kammer bestand pointiert auf der Verwendung dieses
Begriffs anstelle des offensichtlich unfeinen „auferlegt“ (imposed) -
Slobodan Milosevic zu vertreten und erhielten Vollmacht über seine
Verteidigung, einschließlich der Gestaltung seiner Strategie und der
Auswahl der Zeugen. Die Befugnisse, die den Zwangsverteidigern gewährt
wurden, waren weitaus einschneidender als erwartet; und dies
anscheinend selbst von dem Hauptanklagevertreter, der während der
Anhörung offenbar einen „standby-Anwalt“ anvisiert hatte, der bereit
wäre, einzuspringen, falls Milosevics Gesundheitszustand ihn am
Tätigwerden hindern sollte. Stattdessen wurde die Verteidigung Fremden
übertragen, die, außer dass sie von ihrem „Mandanten“ keine
Instruktionen erhielten, in diesen Verhandlungen bereits als eine
andere Partei agiert hatten, nämlich als „Freunde“ eines „Gerichts“,
das der Angeklagte nicht anerkannte.

Dass diese Zwangsbestellung von Anwälten einen Interessenkonflikt
darstellt, dass sie den Internationalen Pakt über bürgerliche und
politische Rechte verletzt, dass weder das südafrikanische
Apartheid-Regime noch Nazi-Deutschland gegen Mandela beziehungsweise
Dimitroff Zwangsverteidiger bestellt hat, und dass die Anordnung der
Zwangsverteidigung tatsächlich die Verhandlungen weiter verzögerte
(während Milosevic gesund ist), hat jene nicht abgeschreckt, welche die
Entscheidung des ICTY verteidigen, Präsident Milosevic das Recht
abzusprechen, Zeugen aufzurufen und seine Verteidigung vorzutragen. Und
seine Verteidigung ist das Problem, da sie sich ehrlicherweise als eine
politische Verteidigung vor einem politischen Gremium präsentiert.

Der Zwangsverteidiger bemühte sich vergeblich, seit Anfang September
mehr als fünf Zeugen zu präsentieren und war damit konfrontiert, dass
sich Experten, Diplomaten, Offiziere und Dutzende anderer weigerten, an
einer Verteidigung teilzunehmen, die nicht die Verteidigung war, die
sie zu unterstützen eingewilligt hatten. (Hier ist anzumerken, dass vor
einer normalen Instanz der Judikative Zeugen keine Mitsprache dabei
haben, ob sie am Funktionieren der Rechtsprechung mitwirken wollen oder
nicht. Die Etymologie des Wortes „subpoena“ - „unter Strafandrohung“ -
macht klar, dass legale Gerichte auch legale Vollmachten haben) Diese
jüngste Krise vor dem ICTY veranlasste neue Interventionen in den
Medien im Interesse der Glaubwürdigkeit des ICTY. Aber die politische
Natur dieser Einlassungen hatte den gegenteiligen Effekt.

Judith Armatta, eine Anwältin, die als Prozessbeobachterin für die in
den USA ansässige Coalition for International Justice tätig ist, verrät
ebenso wie ihre Vorgänger, Scheffer und Scharf, den wahren Grund für
die Zwangsbestellung von Anwälten für Slobodan Milosevic. (Justice, not
Political Platform for Milosevic in International Herald Tribune vom 7.
Oktober) Natürlich mögen weder Armatta noch das ICTY seine “politische
Verteidigung“. Armatta unterstellt, dass Milosevic - und andere vor den
ad hoc-Gremien des Sicherheitsrats, wie dem International Criminal
Tribunal for Ruanda (ICTR) in Arusha, Tansania - einfach launenhafte
Angeklagte sind, die sich weigern, die geltende Prozessordnung zu
respektieren, während diese gut gerüsteten Gerichte dafür kämpfen,
trotz Obstruktion „unvernünftiger“ Angeklagter faire Verfahren zustande
zu bringen. Eine solche Darstellung sowohl der Position von Slobodan
Milosevic (und der ruandischen Angeklagten vor dem ICTR) als auch der
Legitimität der ad hoc-Tribunale ist jedoch falsch.

Armatta schreibt, dass der “Prozess von Slobodan Milosevic vor dem
Internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien zu einem
unentschiedenen Gegeneinander (stand-off) geführt hat, bei dem der
Wille des UN-Gerichtes dem Willen einer Einzelperson, des Angeklagten,
gegenüber steht.“

Diese Beschreibung des Milosevic-Falles als eines Kampfes zweier Willen
ist, gelinde gesagt, eigenartig, denn sie stellt das ICTY in diesem
„unentschiedenen Gegeneinander“ fälschlich als den unterlegenen Teil
dar, der etwas Hilfe und Ermutigung braucht. Was könnte denn das ICTY -
das die volle Unterstützung der einzigen Supermacht genießt - in diesem
„Willenskampf“ mit Milosevic benachteiligen? Die von ICTY-Unterstützern
wie Armatta verbreitete Botschaft ist, dass das Handicap des ICTY durch
seine Tendenz gegeben ist, aus Fairness über Bord zu gehen. Der
Versuch, so fair wie möglich zu sein, bringt die Kräfte der Justiz in
Schwierigkeiten. Daher solche Appelle an das ICTY wie dieser: „Es ist
Sache dieses Tribunals, gegen Milosevic aufzutreten, die eigene
Autorität durchzusetzen und die Welt einen Schritt näher an die
Herrschaft des Rechts heranzubringen.“ Aber ist faires Verhalten die
Hauptsorge des ICTY? Und wie kann das „Auftreten“ gegen Milosevic
irgendjemanden näher an die Herrschaft des Rechts heranbringen,
insbesondere wenn dabei internationale Menschenrechtsinstrumente
verletzt werden?

Das Problem liegt in dem, was Milosevic zu sagen hat. Dass das ICTY die
Zwangsverteidigung pointiert aus „Gesundheitsgründen“ angeordnet hat,
ist für Armatta eine zweitrangige Überlegung, wie wahrscheinlich auch
für die Kammer selbst, die die Tatsache unbeachtet ließ, dass Slobodan
Milosevic sich drei Jahre mit Geschick selbst verteidigt hat und
bereits zehn Jahre an Blutdruck leidet. In Wahrheit wurden seit
Anordnung der Zwangsverteidigung die Gesundheitsgründe, mit denen die
Maßnahme gerechtfertigt wurde, schrittweise durch Andeutungen ersetzt,
dass Milosevic der nötige „Respekt vor dem Gericht“ fehlt.

Armattas Kritik an Slobodan Milosevics Verhalten könnte glauben machen,
dass sie über einen speziellen Zugang zu seinem Gehirn verfügt. Sie
geißelt ihn nicht nur für fehlende Zusammenarbeit bei der laufenden
Verletzung seiner Rechte sonder enthüllt auch, warum er einen so
widersetzlichen Kurs eingeschlagen hat: „Der Angeklagte weigert sich,
mit den Anwälten zusammen zu arbeiten oder bei der Auswahl und
Aufrufung von Zeugen zu helfen oder eine Verteidigungsstrategie zu
entwickeln, da er nicht versucht, sich zu verteidigen sondern den
Prozess als Plattform für seine politische Agenda zu benutzen.“

Wollte man nicht Milosevic sondern das ICTY einer derartigen
Psychoanalyse unterziehen, so könnte man bei dieser Untersuchung darauf
eingehen, welche Konsequenzen sich völlig vorhersehbar aus der
Anordnung der Zwangsverteidigung ergeben. Armatta beschreibt die Lage
folgendermaßen: „Fast die Hälfte der Zeugen, die ursprünglich für
Aussagen in seinem Interesse vorgesehen waren, ist seinem Beispiel
gefolgt und hat sich geweigert vor Gericht zu erscheinen, wenn
Milosevic nicht gestattet wird, sich selbst zu vertreten.“ Wollte man
spekulieren, so könnte man postulieren, dass die Anordnung der
Zwangsverteidigung nichts mit Gesundheit oder Fairness zu tun hat. Der
Grund könnte ganz im Gegenteil sein, dass das ICTY das Erscheinen der
meisten seiner Zeugen zu verhindern wollte, da diese die illegale Natur
des ICTY bloßstellen würden. So könnte man sich im Bereich der
Spekulation vorstellen, dass man richtig vorhergesehen hat, dass man
durch die Anordnung der Zwangsverteidigung einen Boykott durch jene
Zeugen herbeiführen würde und das Verfahren zu einem schnellen
Abschluss bringen würde, ohne dass die meisten von ihnen je in
Erscheinung träten.

Aber diese Art Spekulation gilt als unangebracht. Und sie verträgt sich
nicht mit Armattas Beschreibung der gegenwärtigen Situation als eines
Kampfes der Willen, die doch absolut klarstellt, wo der gute und der
schlechte Wille anzutreffen sind. Und wie wäre die abscheuliche Absicht
dessen, dem böser Wille zu unterstellen ist, besser zu entlarven, als
durch den Hinweis auf seine durchgängige Opposition gegen das
Verfahren, das doch seinem Wesen nach als fair zu betrachten ist?
Armatta behauptet, als ob darin der schlüssige Nachweis seines bösen
Willens liegt, das Milosevic „durchgängig erklärt hat, dass er die
Legitimität des Tribunals nicht anerkennt und jede Gelegenheit nutzen
wird, seinen politischen Fall an die Öffentlichkeit zu bringen.“

Es sollte inzwischen offenkundig sein, dass wenn Slobodan Milosevic
behauptet, dass das ICTY illegal ist, er natürlich jede ihm gebotene
Gelegenheit ergreifen wird, die Welt dieses Tatsache wissen zu lassen.
Schlägt Armatta vor, dass jene die mit vernünftigen rechtlichen
Argumenten einwenden, dass diese Institution illegal ist, sich ihr
nichtsdestoweniger ruhig unterordnen sollten und persönlich zu den
illegalen Aktivitäten beitragen, die sich gegen sie selbst richten?
Armatta äußert - ebenso wie Scheffer und Scharf - Besorgnis über die
schädlichen Auswirkungen der Selbstvertretung auf andere Fälle. Scharf
befürchtet, Saddam Hussein könnte „die einzigartige Gelegenheit der
Selbstvertretung (nutzen), tägliche Angriffe gegen die Legitimität des
Prozesses und die US-Invasion im Irak zu starten.“ Ist es also so, dass
allen Zielobjekten von Aggression das Recht auf Selbstvertretung
versagt werden muss? Oder enthält die Schaffung des ICTY durch den
Sicherheitsrat (der anschließend das ICTR einrichtete, ein Gremium ohne
die gerichtliche Befugnis für die Behandlung der Invasion Ruandas durch
die von den USA unterstützen „Rebellen“, eine Aggression, welche den
tragischen Krieg des Landes auslöste) an sich schon eine ganz andere
Botschaft? Könnte es sein, dass es kein Recht auf Selbstverteidigung
gibt, wenn die USA oder ihre Klienten die Aggressoren sind?

Die Essenz von Armattas Klagen über Milosevic, dem nicht gestattet
werden darf, gegenüber dem Willen des ICTY die Oberhand zu erhalten,
ergibt sich aus einer verfehlten Ansicht des ICTY und seiner Verfahren.
Sie erklärt:

„Als ein legitimes Gericht ist es damit beauftragt, Sorge zu tragen,
dass Recht geschieht im Bezug auf verabscheuenswürdige Verbrechen,
einschließlich Völkermord, die während der 1990er Jahre überall auf dem
Territorium des ehemaligen Jugoslawien begangen wurden. Seine
fundamentale Verantwortung ergibt sich, wie diejenige aller Gerichte,
gegenüber der Sphäre des Rechtsprechung.“

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass das Gericht als “legitim”
beschrieben wird. Da diese Institution im Bezug auf ihre Legalität
zweifelhaften Charakters ist, soll sie bewusst als „legitim“
dargestellt werden. Das ist die bekannte Taktik, die schon von Antonio
Cassese, dem ehemaligen Präsidenten des ICTY angewandt wurde mit seiner
unzweideutigen Behauptung, das der Krieg der USA gegen Jugoslawien
(mittels der NATO) im Jahre 1999 illegal aber eine gute („legitime“?)
Sache war, da er zur Entstehung eines neuen rechtlichen Prinzips führen
könnte. Könnte es sein, dass sogar Armatta mit Milosevic hinsichtlich
der Illegalität des ICTY
übereinstimmt? Dieses kleine Problem der Illegalität kann jedoch völlig
außer Acht gelassen werden, da sich „die fundamentale Verantwortung des
Gerichts gegenüber der Sphäre der Rechtsprechung“ ergibt. So entsteht
das Bild eines illegalen aber legitimen Gerichts, das Rechtsprechung
ausübt!
Wenn man es verwirrend findet, dass ein illegales Gericht legitim sein
kann, ist es noch weit anfechtbarer daraus den Schluss zu ziehen, dass
das ICTY Rechtsprechung ausübt. Denn wie kann ein Gericht
Rechtsprechung ausüben, ohne dass ein ordentliches Verfahren
eingehalten wird?

Gleichwohl argumentiert Armatta in Reaktion auf den Boykott der
Verhandlungen durch viele von Slobodan Milosevics Zeugen, dass sie eine
Art von Pflicht gegenüber diesem Prozess hätten. „Zeugen, die zu diesen
Sachverhalten Aussagen machen können, schulden es dem Angeklagten, der
Öffentlichkeit und den Opfern, an dem Prozess teilzunehmen.“ Aber wenn
der Prozess an sich unfair ist, und das Gericht illegal ist, gibt es
niemanden, dem die Zeugen irgend etwas schulden.

Die Notwendigkeit, die Herrschaft des Rechts zu wahren, wird von
Armatta zur Untermauerung ihrer Behauptung vertreten, dass das ICTY es
zu Recht ablehnt, durch Präsident Milosevic „gehighjacked“ oder
„erpresst“ zu werden. Aber die „Herrschaft des Rechts“ bedeutet etwas
ganz anderes als der Prozess, den Armatta zu legitimieren versucht. A.
V. Dicey, der berühmte britische Verfassungsrechtler, liefert die
klassische Definition:

„Wir meinen vor allem, dass kein Mensch zu bestrafen ist oder an Leib
und Gut beeinträchtigt werden kann, außer wegen eines eindeutigen
Bruchs des Rechts, nachgewiesen in einem ordentlichen Verfahren vor
einem ordentlichen Gericht des Landes.“

Gegen Slobodan Milosevic wird keineswegs „in einem ordentlichen
Verfahren vor einem ordentlichen Gericht des Landes“ verhandelt. Das
ICTY wurde nicht aufgrund von Vertrag oder Abstimmung durch die
UN-Generalversammlung eingerichtet. Das Verfassungsgericht von
Jugoslawien befand, dass Milosevic in Verletzung jugoslawischen und
internationalen Rechts nach Den Haag „überstellt“ wurde. Das Konzept
des „gemeinschaftlichen kriminellen Unternehmens“, das von der Anklage
in einigen Fällen nicht den Nachweis einer völkermörderischen Absicht
verlangt, ist eine jüngere Entwicklung der Rechtsprechung. (Nicht alle
würden dieses Richterrecht als mit dem Gedanken übereinstimmend
ansehen, dass die erforderliche Absicht des Völkermords die Schwere des
Verbrechens reflektieren muss, und das sie daher speziell gegeben sein
muss. Das erste Urteil eines ad hoc-Gerichts, dass Völkermord
definierte, Prosecutor v. Akayesu, nannte dies dolus specialis
(spezieller Vorsatz). Die meisten würden jedoch argumentieren, dass die
herabgesetzten Anforderungen „gut“ sind. Wiederum vielleicht ein
Ausdruck von „illegal aber gut“. Dicey definiert die Herrschaft des
Rechts als ein System, das sich an die Gleichheit vor dem Gesetz hält.
Der Ankläger des ICTY (per Statut ein „Organ“ des Gremiums) hielt es
nicht für notwendig, auch nur eine einzige Klage im Ergebnis der
Myriaden von Verstößen gegen internationales Recht im Zuge der
78tägigen Bombenkampagne der NATO gegen Jugoslawien im Jahre 1999 zu
erheben.

Michael Scharf argumentiert, das ICTY diene dem Ziel, das serbische
Volk zu “erziehen” und “Versöhnung” auf dem Balkan zu fördern. Aber
dies sind keine Funktionen der Rechtsprechung, und Slobodan Milosevic
sollte das Recht haben, auf etwas hinzuweisen, was die Schöpfer des
ICTY - Scharf gilt als Mitwirkender bei der Annahme der
Sicherheitsratsresolution 827 mit dem Statut des ICTY - ohne Zögern
selbst darlegen.

Zu argumentieren, dass das ICTY nicht Grundrechte und internationales
Recht verletzt sondern vielmehr „die Herrschaft des Rechts“ schützt,
ist nicht nur falsch sondern verfälscht geradezu die Idee als solche.

Am 21. Oktober hat die Berufungskammer des ICTY die Parteien zur
Berufungsklage der bestellten Anwälte gegen die Entscheidung der
Tatsachenkammer über die Anordnung der Zwangsverteidigung angehört.
Slobodan Milosevic argumentierte, dass die Bestellung von
Zwangsverteidigern und die Verletzung des Rechts auf persönliche
Verteidigung in den Bereich politischer Gerichte gehört wie im 17.
Jahrhundert die Star Chamber, und verwies auf Scharfs Erklärung, dass
die Ziele des ICTY ihrer Natur nach unverhohlen politisch, nicht
juristisch sind. Sodann erklärte Milosevic, dass er angesichts der
Tatsache, dass der Prozess ein politischer ist, eine politische
Verteidigung verlange, die allein durch Selbstverteidigung zu erreichen
ist. (Tatsächlich bestimmen jüngste Änderungen des ICTY-Verhaltenscodex
für Strafverteidiger, dass die Anwälte

„sich keines Verhaltens schuldig gemacht haben dürfen, sei es in
Ausübung ihres Berufes oder auf andere Weise, (...) das geeignet ist,
das öffentliche Vertrauen in das Internationale Tribunal zu schmälern
(...) oder auf andere Weise das Internationale Tribunal in Misskredit
zu bringen.“)

Darauf entgegnete der Präsident des ICTY, Theodor Meron:

“Ich glaube wirklich, und ich glaube, dass alle meine Kollegen sehr
fest daran glauben, dass dieser Prozess kein politischer Prozess ist.
Es ist ein juristischer Prozess unter Berücksichtigung der
Menschenrechte und eines ordentlichen Verfahrens um festzustellen, nach
internationalem Recht und gemäß dem Statut, ob - um festzustellen, ob
Sie über jeden vernünftigen Zweifel schuldig sind oder nicht. Und wir
hätten diese Verhandlungen nicht in der Art geführt, wenn wir nicht
überzeugt wären, dass dies wirklich nicht nur ein juristischer Prozess
ist, sondern ich glaube, es ist das Musterbeispiel eines fairen
Prozesses.“

Wenngleich wir feststellen, dass die Bemerkungen von Präsident Meron
eine implizite Zurückweisung von Scharfs Konzeption der Ziele des ICTY
darstellen, bleibt allerdings die Tatsache, dass das ICTY nicht klar
darauf hingewiesen hat, dass es derartige Behauptungen nicht dulden
würde. Denn wer oder was gefährdet die Glaubwürdigkeit des ICTY?
Präsident Milosevic, der gehindert wird zu argumentieren, dass das ICTY
ein politisches Gremium ist oder Leute wie Scheffer, Scharf und
Armatta, die deutlich machen, dass es dies ist? Könnte es einfach sein,
dass das ICTY wirklich ein politisches Gremium ist, dessen Schaffung
und Beendigung - anders gesagt, dessen Geburt und Tod - das Ergebnis
von politischen Entscheidungen sind?

Diese politische Wirklichkeit enthüllt “die Eigenart der
Veranstaltung”. Und die Tatsache, das nicht jeder das Recht hat, gerade
auf diesen Punkt hinzuweisen, verstärkt nur die Argumente von Slobodan
Milosevic, selbst wenn ihm das Recht genommen ist, sie zu äußern.


Übersetzung aus dem Englischen: Klaus von Raussendorff

Tiphaine Dickson ist Strafverteidigerin in Montreal und wirkte als
führende Anwältin in einem der ersten Völkermord-Prozesse der UN vor
dem ICTR in Arusha/Tansania. Sie ist zu erreichten unter:
tiphainedickson @ videotron.ca

Aleksandar Jokic ist Professor für Philosophie an der Portland
Staatsuniversität und Direktor des Center for Philosophical Education
in Santa Barbara. Er ist zu erreichen unter: ajokic @ sbceo.org


© Copyright Tiphaine Dickson an Aleksandar Jokic, CRG 2004 .

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[ 3 ]

Aus: Freitag v. 15. Okt. 04

http://www.freitag.de/2004/43/04430801.php

KEIN EXKLUSIVES RECHT AUF FAIRNESS
TRIBUNAL IN DEN HAAG:
GEHT DER MILOSEVIC-PROZESS OHNE DIE ZEUGEN DES ANGEKLAGTEN ZU ENDE?

Von Germinal Civikov

Anfang September hatten die Richter des Haager Jugoslawien-Tribunals
beschlossen, dem einstigen jugoslawischen Präsidenten Slobodan
Milosevic Pflichtverteidiger zuzuordnen. Begründet wurde dies mit der
angeschlagenen Gesundheit des Angeklagten. Daraufhin musste der Prozess
unterbrochen werden, da Milosevic auf seinem Recht bestand, sich selbst
verteidigen zu
können, und viele der von ihm benannten Zeugen ihre Aussage wegen der
Entscheidung des Tribunals verweigerten.

Ob denn der Zeuge ein echter Amerikaner sei, möchte Ankläger Geoffrey
Nice zunächst wissen. James Jatras, Jurist, Ex-Diplomat und
langjähriger außenpolitischer Berater der Republikaner im US-Senat,
bestätigt vor dem Haager Gericht, dass er in den USA geboren und
aufgewachsen sei. Und wie sehe es denn mit seinem Vater aus - setzt
Geoffrey Nice nach. Sei der geborener Amerikaner? Ja, Vater und Mutter
wurden auch in den USA geboren, bestätigt der Zeuge. Jatars sagt nicht
von sich aus, dass der Vater ein hoch dekorierter Oberst der
US-Luftstreitkräfte und Militärattaché in Moskau war.
Und weiter, wie geht es weiter mit dem Familienstammbaum? - bohrt der
Ankläger, und siehe da: die Großeltern des Zeugen kommen aus
Griechenland!
Und dann möchte der Ankläger bitte noch wissen, welcher Konfession
James Jatras angehöre. Der griechisch-orthodoxen etwa?

Als das bestätigt wird, lehnt sich Geoffrey Nice zufrieden zurück.
Seine Botschaft an die Richter im Milosevic-Prozess ist klar: James
Jatras präsentiert sich zwar als Amerikaner, eigentlich aber ist er
orthodoxer Grieche und daher als Zeuge eines Serben zumindest dubios,
wenn nicht unglaubwürdig.

Dies alles geschieht am 9. September 2004, während der 289. Sitzung des
Tribunals gegen den Ex-Präsidenten Jugoslawiens. Die Videoaufnahme der
Vernehmung dieses zweiten Zeugen des Angeklagten ist noch immer nicht
freigegeben. "Mister Nice is not nice", kommentiert James Jatras später
seine Befragung.

Das Gericht erfüllt der Anklage ihren heißesten Wunsch

Wäre es vor einem US-Gericht denkbar, dass der Staatsanwalt die
Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu erschüttern sucht, indem er dessen
ethnische Herkunft und Konfession ins Spiel bringt? Im Haager Tribunal
ist das möglich, ohne die Richter zu verärgern. Ein Gerichtshof, der
für sich in Anspruch nimmt, den ethnischen Wahn und dessen Verbrechen
zu verfolgen, lässt zu, dass ein Ankläger ungestört seine ethnischen
und konfessionellen Vorurteile zur Schau stellt. Unter anderen
Umständen würde sich vermutlich auch Geoffrey Nice einen solchen
Vernehmungsstil nicht erlauben, doch warum sollte er bei einem
Gerichtshof Zurückhaltung üben, der bisher viele Frivolitäten der
Anklage durchgehen ließ: Anwälte im Zeugenstand, fragwürdige
Video-Mitschnitte als Beweisstücke, Zeugenbefragungen per Video, jede
Menge an geschützten Zeugen und geschlossenen Sitzungen, die einen
Großteil des Verfahrens vor der Öffentlichkeit verborgen hielten.

Nun also erfüllte das Gericht am 2. September der Staatsanwaltschaft
ihren heißesten Wunsch und entzog Milosevic das Recht, sich selbst zu
verteidigen.
Mehrmals hatte Chefanklägerin Carla del Ponte während der ersten Runde
des Prozesses verlangt, dem Angeklagten Pflichtverteidiger zu
verordnen, da er politische Reden halte und das Verfahren sabotiere -
und jedes Mal hatten das die Richter mit geradezu pathetischen
Begründungen abgelehnt: Das Recht, sich selbst zu verteidigen, sei ein
fundamentales Menschenrecht und deshalb in den Statuten des Tribunals
verankert.

Aber ausgerechnet in einer Prozessphase, da Milosevic seine Zeugen
präsentiert, werden ihm Pflichtverteidiger mit der Begründung
verordnet: Er sei zu krank, um weiter Anwalt in eigener Sache zu sein.
Daher müssten die bisherigen Prozessbeobachter Steven Kay und Gillian
Higgins für einen fairen Prozess sorgen, indem sie seine Verteidigung
übernehmen. Richter Kwon meinte allen Ernstes, es wäre
selbstmörderisch, würde sich der Angeklagte weiter selbst verteidigen.
Schließlich sei man auch verpflichtet, einen
Selbstmörder daran zu hindern, Hand an sich zu legen.

Dass sich Slobodan Milosevic nicht in einem engen strafrechtlichen
Sinne verteidigt, mag zutreffen, obgleich auch in juristischer Hinsicht
seine Befragung von Zeugen der Anklage durchaus überzeugen konnte.
Andererseits hat der Angeklagte eine Verteidigung in einem rein
strafrechtlichen Sinne bisher immer abgelehnt, was sein - international
verbürgtes - Recht ist. Milosevic erkennt das Tribunal nicht an und hat
mehrfach erklärt, die Prozesstribüne nutzen zu wollen, um in aller
Öffentlichkeit seine Sicht vom Zerfall Jugoslawiens kundzutun. Worin
also bestehen die Motive der Richter, dem Angeklagten plötzlich zwei
Pflichtverteidiger zu verordnen? Sorgen sie sich um Milosevics
Gesundheit - oder um die Wirkung seiner Beweisführung durch Zeugen und
Dokumente?

Womit das Gericht bei seinem Entschluss ganz gewiss nicht gerechnet
hat, das ist der jäh ausgebrochene "Aufstand der Zeugen". Der vom
Ankläger Geoffrey Nice ethnisch taxierte James Jatras war der zweite
und vorletzte von bislang 23 Vorgeladenen. Als ehemaliger
außenpolitischer Berater des US-Senats hatte er Verwicklungen der
Clinton-Administration in Waffenlieferungen aus dem Iran an die
bosnischen Muslime sowie die Rolle der CIA bei der Teilnahme von
Mudschaheddin am Bürgerkrieg in Bosnien bezeugt, die heute mit al Qaida
in Verbindung gebracht werden. Jatras zitierte Dokumente, wonach die
damalige US-Regierung schon im August 1998 - sieben Monate vor Beginn
der NATO-Luftangriffe - den "ultimativen Beschluss" gefasst hatte,
wegen des Kosovo-Konflikts gegen Jugoslawien militärisch vorzugehen,
sobald sich dafür ein Vorwand bieten sollte.

Der dritte und bislang letzte Zeuge der Verteidigung war der kanadische
Historiker Roland Keith, der zu Protokoll gab, als Leiter einer
OSZE-Mission im Kosovo 1998/99 sei er auf kooperative jugoslawische
Militärs gestoßen, die sein Inspektoren-Team nicht behinderten.
Nirgendwo habe er ernsthafte Übergriffe der jugoslawischen Armee
wahrnehmen können, während die albanische UÇK durch Angriffe auf
Polizeipatrouillen die Lage destabilisiert habe, um harte Reaktionen
des Westens zu provozieren. Zu einer "humanitären Katastrophe" - so
Keith - sei es im Kosovo erst gekommen, als die NATO ab Ende März 1999
mit ihren Bombardierungen begann.

Weitere Zeugen gab es nicht. Wie Pflichtverteidiger Steven Kay bekannt
gab, wollten die Vorgeladenen erst dann vor Gericht erscheinen, sobald
der Angeklagte wieder das Recht habe, sich selbst zu verteidigen. James
Bissett, früher Botschafter Kanadas in Belgrad, sprach in einem Brief
an die Pflichtverteidiger gar von einem "Schauprozess" - er wolle als
Zeuge nicht an dieser "Pervertierung des Rechtes" beteiligt sein. Und
George Kenney, früherer Balkan-Experte im State Department, ließ
wissen, für ihn sei Milosevic nicht schuldig im Sinne der Anklage, doch
müsse er sich unter den gegebenen Umständen als Zeuge in dieser Sache
verweigern. Eine Entscheidung, wie sie inzwischen 260 der von der
Verteidigung benannten Persönlichkeiten teilen. Nur Yves Bonnet,
ehemaliger Chef des französischen Geheimdienstes, teilte mit: Er werde
aussagen und zwar zugunsten des Angeklagten. Er wisse, Milosevic sei
nicht für die Kriegshandlungen seinerzeit in Bosnien verantwortlich zu
machen, da die bosnischen Serben nicht unter seinem Kommando standen.

Auf die epidemische Zeugenverweigerung hatte Richter Robinson Anfang
September zunächst mit einer Suspendierung des Verfahrens für vier
Wochen reagiert, woraufhin Pflichtverteidiger Steven Kay einen
Kompromiss ins Gespräch brachte. Danach sollte Milosevic das Recht
zugestanden werden, jeweils als erster die Zeugen zu befragen, während
die Pflichtverteidiger gewissermaßen als Standby-Anwälte verfügbar
blieben - für das Gericht ein inakzeptables Verfahren. Dieses Votum
wiederum ließ Kay den Antrag stellen, von seinem Amt entbunden zu
werden.

Am 29. September schließlich teilten die Richter schriftlich mit, das
Recht auf Selbstverteidigung des Angeklagten sei dem Recht auf einen
fairen Prozess untergeordnet. Sollte Milosevic weiterhin jede
Kooperation mit den Pflichtverteidigern ablehnen, könnte die
Fortsetzung der Beweisaufnahme zur Disposition stehen. Steven Kay
konterte noch einmal, es gebe einen prinzipiellen Widerspruch im
Verhalten der Richter - einerseits werde der Angeklagte für zu krank
erklärt, um sich selbst verteidigen zu können, andererseits sei er
gesund genug, um als verhandlungsfähig zu gelten.

Milosevic wird verurteilt, ist Chefanklägerin del Ponte überzeugt

Für jeden unvoreingenommenen Beobachter steht außer Zweifel, dass es
mit dem Milosevic-Prozess vorzugsweise darum geht, die Deutungshoheit
über das Zerbrechen der jugoslawischen Föderation zwischen 1991 und
1999 zu sichern. Im vorherrschenden Geschichtsbild ist für den
ehemaligen Präsident Jugoslawiens der Part eines Verschwörers
reserviert, dessen "joint criminal enterprise" darauf gerichtet war,
durch Krieg und Vertreibung einen "großserbischen Staat" erstehen zu
lassen. Bei einem Schuldspruch würden dieses Muster und damit auch der
NATO-Luftkrieg von 1999 strafrechtlich legitimiert. Jene Intervention,
von der es hieß, sie sei zwar völkerrechtlich illegal, aus humanitären
Gründen aber legitim gewesen.

Milosevic seinerseits sieht bekanntermaßen gleichfalls eine
Verschwörung am Werk, allerdings eine zur Zerstörung Jugoslawiens, die
hauptsächlich von der Bundesrepublik Deutschland, dem Vatikan und
später den USA betrieben worden sei. Dass es in den jugoslawischen
Kriegen zu fürchterlichen Verbrechen kam, bestreitet er nicht, wohl
aber die eigene politische Verantwortung für die 1991 mit teilweise
barbarischen Konsequenzen einsetzende Sezession.

In einem Zeitungsinterview gab sich Chefanklägerein Carla del Ponte
jüngst siegessicher: "Milosevic wird schuldig gesprochen und
verurteilt." Die "politischen Elemente" seiner Verteidigung könnten die
entscheidenden Punkte ihrer Anklage nicht erschüttern.

Diese Gewissheit wirft freilich die Frage auf, warum lässt man den
Angeklagten dann nicht diese Elemente präsentieren? Geoffrey Nice
machte jedenfalls kein Hehl aus seiner Genugtuung, dass die
Entscheidung über die Pflichtverteidiger für Milosevic die Möglichkeit
einschränken werde, "das Tribunal als politische Plattform zu
benutzen". Dieser Beschluss fiel übrigens, nachdem der Angeklagte im
Eröffnungsplädoyer zu seiner Verteidigung angekündigt hatte,
verschiedene westliche Führer wie Ex-Präsident Clinton und den
britischen Premier Blair als Zeugen laden zu wollen.

Soweit wird es nicht kommen, denn offenbar soll auch das geringste
Risiko vermieden werden. So könnte der "Prozess des Jahrhunderts" unter
Umständen auch ohne die Zeugen des Angeklagten fortgeführt und zu Ende
gebracht werden. Schließlich habe Milosevic "kein exklusives Recht" auf
ein faires Verfahren, meint Judith Armatta von der Coalition for
International Justice.


Der Autor verfolgt den Prozess für mehrere Zeitungen in den
Niederlanden.


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E N D E