Das Massaker vom 20. Februar 2014
Ein Jahr nach dem Umsturz in der Ukraine werfen zwei voneinander unabhängige Berichte führender westlicher Medien ein neues Licht auf die Kiewer Todesschüsse vom 20. Februar 2014. An jenem Tag wurden im Zentrum Kiews mehr als 50 Menschen erschossen. Das Blutbad forcierte den Sturz von Staatspräsident Wiktor Janukowitsch und wurde auch in Berlin zur Legitimation des Umsturzes angeführt: Ein Präsident, der Demonstranten gezielt massakrieren lasse, habe das Recht auf sein Amt verwirkt, hieß es.
Die ersten Schüsse
Seit einigen Tagen liegen nun neue Zeugenaussagen zu dem Massaker vor. Demnach setzten bewaffnete Regierungsgegner am 20. Februar die tödliche Eskalationsstrategie fort, die sie kurz zuvor gestartet hatten. Bereits am 18. Februar hatten sich gewalttätige Faschisten aus einem als "Friedensoffensive" angekündigten Protestmarsch gelöst, Polizisten mit Molotow-Cocktails attackiert, ein Büro der "Partei der Regionen" von Staatspräsident Wiktor Janukowitsch gestürmt und dort einen Wachposten sowie zwei Parteimitarbeiter umgebracht. Die Polizei schlug brutal zurück. Am Abend des 18. Februar wurde von rund 25 Todesopfern berichtet, darunter etwa ein Drittel Polizisten, von denen wiederum einige mit Schusswaffen getötet worden waren. Am 19. Februar wurden die Vorbereitungen für eine weitere Eskalation getroffen. Gegenüber der BBC hat ein Majdan-Demonstrant jetzt bestätigt, er habe am Abend des 19. Februar ein Saiga-Jagdgewehr erhalten und sich am 20. Februar in das Gebäude des Kiewer Konservatoriums direkt am Majdan begeben, das von den Demonstranten gehalten wurde. Von dort aus ist, wie Fotos nahelegen und auch der damalige Demonstrant und ein Bericht eines damaligen Oppositionspolitikers bestätigen, auf Polizisten geschossen worden. Dabei wurden die ersten drei Polizisten getötet.[1]
Im Kugelhagel
Den weiteren Verlauf der Eskalation hat Wolodymyr Parasjuk, heute ein Parlamentsabgeordneter, zuvor ein Kämpfer des Bataillons "Dnipro", der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschildert. Parasjuk, damals Anführer einer der "Hundertschaften" des Majdan, beschreibt, wie die Polizei nach ihren ersten Todesopfern den Rückzug antrat - "den Petschersker Berg über dem Majdan hinauf, die Institutska-Straße entlang", wie die Zeitung schreibt. Parasjuk berichtet, seine Hundertschaft habe die Polizisten sofort verfolgt: "Alle, die auf den Barrikaden waren, begannen die Institutska-Straße zu stürmen".[2] "Viele" seien zu diesem Zeitpunkt längst bewaffnet gewesen; sie hätten ihre Gewehre, "als sie stürmten", denn auch "eingesetzt". Polizisten in besserer Deckung als die Abziehenden hätten ihren im Kugelhagel abziehenden Kollegen "Feuerschutz" gegeben und zahlreiche angreifende Demonstranten tödlich getroffen. Trifft die Darstellung zu, dann kann von einem von Präsident Janukowitsch gezielt geplanten Massaker an der Opposition keine Rede sein.
Von der Opposition kontrolliert
Nach wie vor unklar ist, in wessen Auftrag die offenbar professionellen Scharfschützen handelten, die anschließend noch zahlreiche Menschen auf dem Majdan erschossen. Bereits im Frühjahr 2014 ergaben Recherchen eines deutschen TV-Teams, dass gezielte Schüsse aus den obersten Etagen des Hotels "Ukraina" am Majdan abgefeuert wurden.[3] In einem hochgelegenen Fenster des Hotels hatte schon ein BBC-Korrespondent, der die Ereignisse am 20. Februar persönlich miterlebte, einen Scharfschützen ausgemacht. Das Hotel wurde in der fraglichen Zeit von der damaligen Opposition kontrolliert; der Zutritt war strikt reglementiert. Den Verdacht, "dass nicht Janukowitsch hinter den Scharfschützen stand, sondern dass es jemand aus der neuen Koalition war", hatte der estnische Außenminister Urmas Paet schon Anfang März gegenüber der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton geäußert - unter Berufung auf Janukowitsch-Gegner.[4] Das Ziel wäre demnach gewesen, die Gewalt eskalieren zu lassen und damit den endgültigen Sturz der Regierung zu provozieren. Opferanwälte beklagen bis heute, die offizielle Untersuchung des Massakers werde verschleppt und nicht ernsthaft geführt. Eine Aufklärung des Blutbads durch internationale Experten wurde anfangs gefordert, kam jedoch nie zustande.
Instruktionen aus Berlin
Dass das Massaker trotz aller Unklarheiten bis heute zur Legitimation für Janukowitschs Sturz herangezogen wird, erinnert an ähnliche Verfahrensweisen in früheren Konflikten - so etwa bei der Legitimation des Kosovo-Kriegs. Höchste Bedeutung kam damals dem "Massaker von Račak" zu. Am 16. Januar 1999 waren in dem südserbischen Dorf mehr als 40 Leichen von Kosovo-Albanern gefunden worden. Die damaligen Behauptungen westlicher Politiker und Medien, es habe sich bei ihnen um Opfer einer Hinrichtung durch serbische Repressionskräfte gehandelt, sind nie glaubhaft bewiesen worden. Vielmehr deuteten zahlreiche Indizien schon bald darauf hin, dass die Toten bei Kämpfen zwischen jugoslawischen Einheiten und der Terrormiliz UÇK ums Leben gekommen waren. Wie die finnische Forensikerin Helena Ranta, die damals die Untersuchung des Falles leitete, später beklagte, sei sie unter Druck gesetzt worden und habe vom deutschen Kosovo-"Sonderbotschafter" Christian Pauls "Instruktionen" erhalten: Es sei klar gewesen, "dass eine ganze Reihe von Regierungen Interesse an einer Version der Ereignisse von Racak hatten", die "allein die serbische Seite verantwortlich machte".[5] Die Todesfälle sind bis heute ebensowenig aufgeklärt worden wie die Todesschüsse vom 20. Februar 2014 auf dem Majdan.
Fischers "Auschwitz"
Weitere Geschehnisse vor und während des Kosovo-Kriegs belegen ebenfalls, wie im "freien Westen" längst vor dem Ukraine-Konflikt die Berichterstattung massiv manipuliert wurde. Dies ergibt sich beispielsweise aus Schilderungen deutscher Militärexperten, die im Namen der OSZE sowie einer EU-Mission die Lage in der südserbischen Provinz um den Jahreswechsel 1998/99 beobachteten. Wie sich etwa Heinz Loquai im Gespräch mit
german-foreign-policy.com erinnerte, der Anfang 1999 als Brigadegeneral der Bundeswehr in der deutschen OSZE-Vertretung in Wien tätig war, hieß es am 18./19. März in einem OSZE-Bericht über das Kosovo: "Die Lage über die ganze Provinz hinweg bleibt angespannt, aber ruhig." Noch am 23. März hätten Experten des Verteidigungsministeriums resümiert: "Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen." Dies sei "die Situation" gewesen, sagte Loquai, die Rudolf Scharping, damals Verteidigungsminister, und Josef Fischer, sein Ministerkollege im Außenamt, "mit dem Holocaust, mit dem Mord an sechs Millionen Juden, verglichen" hätten - um den Überfall am 24. März 1999 zu legitimieren.[6]
Mit der Realität nichts zu tun
Ähnlich hat sich Dietmar Hartwig geäußert, ein ehemaliger Bundeswehroffizier, der 1999 als EU-Beobachter bis kurz vor Beginn des Krieges im Kosovo tätig war. "Massive, gar staatlich gelenkte Verbrechen gegen die Bevölkerung" seien ihm "weder aus den Berichten der Beobachter noch aus den Gesprächen mit führenden kosovo-albanischen Politikern bekannt" gewesen, erklärt Hartwig: "Dennoch sprachen die Medien ständig von einer grundlosen Brutalität der serbischen Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung." Hartwig hält fest: "Die Medieninformationen, die mir während meiner Zeit im Kosovo und danach vorlagen, zeigen ein Bild, das mit der Realität nichts zu tun hatte."[7] Das galt nicht zuletzt für den angeblichen Hufeisenplan, ein aus dubiosen Geheimdienstunterlagen zusammengeschustertes, von Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) und der Bundesregierung der jugoslawischen Regierung zugeschriebenes Papier, das, wie der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck am 15. April 1999 im Bundestag behauptete, "die Entvölkerung des Kosovo von Albanern" vorsah.[8] Die Behauptung wurde von allen führenden Medien in der Bundesrepublik umstandslos übernommen; sie schwächte die Opposition gegen den Krieg eklatant.
Panzer ohne Datum
Vor diesem Hintergrund erweisen sich die gegenwärtige antirussische Berichterstattung deutscher Medien und die immer wieder nachgewiesenen medialen Fälschungen als Normalfall in Zeiten eskalierender Konflikte. Zuletzt musste etwa das ZDF einräumen, eine Meldung über 50 angeblich in die Ukraine eingerückte russische Panzer mit einem Foto georgischer Panzer aus dem Jahr 2009 illustriert zu haben. Ein Grafiker habe "aus Unachtsamkeit aus georgischen Panzern von 2009 russische Panzer ohne Datum" gemacht; "der zuständige
heute.de-Redakteur" habe den "Fehler ... nicht erkennen" können, erklärt das ZDF.[9] Ähnliche "Fehler" sorgten schon vergangenes Jahr für massive Kritik (
german-foreign-policy.com berichtete [10]). Die Erfahrungen aus dem Kosovo-Krieg sprechen nicht dafür, dass sich vor einem - derzeit nicht absehbaren - Ende des Konflikts an der Berichterstattung der Leitmedien oder am Ausbleiben der Aufklärung konfliktlegitimierender Massaker etwas ändert.