(L'anniversario dell'inizio della aggressione NATO contro la RFJ nel 1999 ed i concomitanti paradossali festeggiamenti per il 50.mo della Comunità Europea, gli effetti del DU e delle politiche occidentali in Jugoslavia, la destinazione dei fondi del "Premio Alternativo Heinrich Heine": sono tra gli argomenti trattati nell'edizione del 24 marzo u.s. dall'ottimo quotidiano berlinese "junge Welt")

---


24.03.2007 / Titel / Seite 1

Friede, Freude, Krieg


Zum Jahrestag des Angriffs auf Jugoslawien macht sich Kanzlerin Merkel für eine EU-Armee stark. »Berliner Erklärung« nimmt Kurs auf Neuauflage der Europa-Verfassung

Von Rüdiger Göbel


PHOTO: Frau Merkel im Manöver - 31. August 2006
Foto: AP

Zum achten Jahrestag des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien geben sich Deutschland und die Europäische Union friedlich und euphorisch. Ja fast schon pazifistisch. Am Freitag ließ Bundeskanzlerin und EU-Ratspräsidentin Angela Merkel (CDU) freudig ihre bis dahin geheimgehaltene »Berliner Erklärung« zum 50.Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge verbreiten. Das dreiseitige Dokument umreißt in blumigen Worten die Entstehung, die Werte und die künftigen »Herausforderungen« der Europäischen Union. »Die europäische Einigung hat uns Frieden und Wohlstand ermöglicht. Sie hat Gemeinsamkeit gestiftet und Gegensätze überwunden«, frohlockt das Papier, als seien Belgrad, Nis und Pristina 1999 nicht von europäischen Kampfjets bombardiert worden. 

Merkel konnte am Freitag zufrieden sein. Alle anderen Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten hatten ihre Erklärung am Ende abgenickt. Am Sonntag werden sich die 27 auf einer Jubelfeier in Berlin verpflichten, die Union bis 2009 auf eine »erneuerte gemeinsame Grundlage« zu stellen, d.h. die nach den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden durchgefallene EU-Verfassung gegen den Willen der Bevölkerung doch noch auf den Weg zu bringen. Kleine Konzession Berlins an Paris: Über die Zukunft des auf Eis gelegten Verfassungsvertrages soll ab Mai – nach den französischen Präsidentschaftswahlen – beraten werden. 

In der Bild-Zeitung vom Freitag machte Merkel klar, wohin die EU-Reise geht. Ziel für die Zukunft der Europäischen Union sei der Aufbau einer eigenen Truppe. »Wir müssen einer gemeinsamen europäischen Armee näher kommen«, forderte die Bundeskanzlerin in dem einflußreichen Boulevardblatt. Diesen Klartext vermied Merkel in ihrer »Berliner Erklärung«. Darin fabuliert sie nachgerade pazifistisch: »Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint. Wir setzen uns dafür ein, daß Konflikte in der Welt friedlich gelöst und Menschen nicht Opfer von Krieg, Terrorismus und Gewalt werden.« 

Die EU und Konflikte friedlich lösen? Zur Erinnerung: Bis auf Malta und Zypern sind alle 27 Mitgliedsländer derzeit mit eigenen Truppen am US-geführten Krieg in Afghanistan beteiligt. Und im Irak stellt Großbritannien nach den USA das zweitgrößte Kontingent an Besatzungssoldaten. EU-Schwergewicht Deutschland wiederum ist für Wa­shington zur wichtigsten Drehscheibe für die Okkupation des Zweistromlandes geworden. Über US-Basen in der BRD wird Kriegsgerät in den Irak geflogen, auf ihrem Rückweg transportieren die Militärjets die Versehrten und Toten. 

In Serbien wird an diesem Samstag an die Opfer der NATO-Bomben erinnert. In Berlin wird gefeiert. Kanzlerin Merkel bekundete in Bild: »Die Idee der europäischen Einigung ist auch heute noch eine Frage von Krieg und Frieden.« 

---


24.03.2007 / Inland / Seite 2

»Wir werden jeden Cent überbringen«


Berliner Heinrich-Heine-Preis: Peter Handke wird im Kosovo Opfern des NATO-Krieges mehr als 50000 Euro übergeben. Ein Gespräch mit Rolf Becker


* Rolf Becker ist Schauspieler und Mitglied der Initiative »Dialog von unten statt Bomben von oben – Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gegen den Krieg« sowie Mitinitiator des Berliner Heinrich-Heine-Preises für Peter Handke

An diesem Samstag jährt sich der Jahrestag des NATO-Angriffs auf Jugoslawien zum achten Mal. Ein Datum, das nicht mehr allzu vielen Menschen präsent ist ...


Das hat mit der Geschichte dieses Krieges zu tun. Er ist propagandistisch auf eine Weise vorbereitet worden, die bis heute auf das Bewußtsein der Menschen wirkt. Viele glauben immer noch, in Jugoslawien sei ein Diktator gestürzt worden. Sie glauben immer noch, der Krieg sei aus humanitären Gründen zur Errichtung von Rechtsstaat und Demokratie und für das Zusammenbringen der Völker geführt worden. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Nationalitäten sind getrennt und das Land zerschlagen und zerstückelt worden, um es beherrschbar zu machen.


Dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien konnte kein Einhalt geboten werden. Sind die deutschen »Tornados« in Afghanistan die Folge?

Mit Jugoslawien wurde die Grundlage gelegt. Daran haben wir in den Gewerkschaften einen erheblichen Anteil. Der damalige DGB-Vorsitzende Dieter Schulte sagte ja zu diesem Krieg – ohne die Mitglieder gefragt zu haben. Trotz vielfacher Aufforderungen wurde dieses offizielle Ja des DGB nie revidiert. Die Debatte darüber wurde verhindert und damit die Mobilisierung der Kolleginnen und Kollegen. So beschränkt sich bei den »Tornado«einsätzen der Protest nahezu auf das mutige Nein des Oberstleutnant Jürgen Rose vom »Darmstädter Signal« ...


Es gibt auch das Nein von der Linksfraktion im Bundestag. Was halten Sie von deren Versuch, die »Tornados« juristisch zu stoppen?

Krieg ist juristisch nicht zu stoppen. Jeder Versuch, das zu machen, ist anerkennenswert, aber wir müssen die Menschen und vor allem die Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften erreichen. Nur wenn sie verstehen, können wir etwas verändern. In den USA begreifen immer mehr Menschen – leider erst durch die Zunahme der Zinksärge.


In zwei Wochen begleiten Sie den Schriftsteller Peter Handke in die serbische Provinz Kosovo, der dort sein Preisgeld für den alternativen Berliner Heinrich-Heine-Preises spenden will. Die offzielle Auszeichnung der Stadt Düsseldorf hatte er abgelehnt, nachdem eine denunziatorische Debatte gegen ihn stattgefunden hatte. Warum wird Handke in Deutschland so angefeindet?

Otto Köhler hat einmal gesagt, der Krieg gehört zum Gründungsmythos dieser Republik. Der darf nicht angetastet werden. Der Installation der Berliner Republik und der Regierungsübernahme durch SPD und Grüne folgte bald die Zustimmung zum Krieg. Unter deutscher Beteiligung, erstmals seit 1945. Das alles mit Hilfe der bürgerlichen Medien. Die Herren über Krieg und Frieden können nicht zulassen, daß ihr Gebilde erschüttert wird oder gar zusammenbricht. Entsprechend werden jene schikaniert, die versuchen, die Wahrheit zu verbreiten.


Ihr Ziel war es, 50000 Euro für den alternativen Heinrich-Heine-Preis zu sammeln. Wieviel haben Sie erreicht?

Wir liegen jetzt bei 51700 Euro. Wir haben große Beträge von 5000 Euro bekommen bis hin zu Spenden von 2,50 Euro von ALG-II-Empfängern. Allen ist gleichermaßen zu danken. Mit unserer Sammlung wollten wir, mit Peter Handkes Worten, »mehr als nur vorübergehend aufmerksam machen«. Die Spender haben gezeigt, daß sie begriffen haben. Sie haben nicht nur für einen Poeten gespendet, sondern für einen Poeten, der in der deutschen Literaturlandschaft zur Zeit der einzige ist, der konsequent Stellung bezieht und sich nicht beirren läßt. Er wird geschmäht und auch ästhetisch herabgewürdigt. Aber er läßt sich nicht beirren. Wie seinerzeit Heinrich Heine.


Wofür genau soll das Geld gespendet werden?

Darüber verfügt Peter Handke. Er hat Kontakte in die Enklave Orahovac. Hier wird der Preis im Rahmen des Osterfestes übergeben. Die Lage der Menschen in den Enklaven ist verheerend. Sie leben wie im Ghetto. Wir werden jeden Cent, der auch nach der Reise noch eingezahlt wird, überbringen.

Interview: Wera Richter


* Spenden gehen an: Rolf Becker/Berliner Heine-Preis, Hamburger Sparkasse, BLZ 20050550, Konto-Nr: 1001212180. Weitere Informationen: berliner-heinrich-heine-preis.de

---


24.03.2007 / Wochenendbeilage / Seite 4 (Beilage)


Ruinen und Uranstaub


Welche Schäden entstanden durch den Beschuß mit DU-Munition? Eine Reise durch Serbien acht Jahre nach den Angriffen der NATO

Von Barbara Hug


PHOTO: Bomben auf Belgrad. Am 21. April 1999 schossen die NATO-Angreifer das Hochhaus in Brand, in dem sich u. a. drei Fernseh- und Radiostationen befanden
Foto: AP


Seit dem 24. März 1999 herrschte erstmals wieder nach 1945 Krieg in Europa. An diesem Tag gegen 20 Uhr erfolgten auf Befehl der NATO-Führung Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien. Betroffen waren zunächst Ziele in den Städten Belgrad, Pristina, Novi Sad. Eingesetzt wurden Marschflugkörper, abgefeuert von U-Booten in der Adria sowie B-52-Bombern, Kampfflugzeuge und später auch Tarnkappenbomber. Während des Krieges, der am 10. Juni beendet wurde, verschoß die NATO mindestens 35 000 Geschosse mit abgereichertem Uran. Die Opferzahlen auf serbischer Seite liegen bei 5500 getöteten serbischen Zivilisten und Soldaten.


Der achte Jahrestag des ­NATO-Krieges gegen Jugoslawien näherte sich, und wir machten uns auf die Reise Richtung Belgrad. Unser Anspruch, Eindrücke zu sammeln in einem Land, das schamlos von denen vernichtet wurde, die zu Kalte-Kriegs-Zeiten den Osten stets als Feind darstellten und ihm Angriffspläne unterstellten – und schließlich selbst aggressiv gegen jenes Vielvölker-Staatsgebilde gehandelt hatten. Wir sprachen mit Menschen in Belgrad, in Nis und auf dem Land. Wie war das eigentlich mit dem Krieg? Und: Wie sieht es heute aus?

Erster Eindruck: Noch stehen die zerbombten Hochhäuser als Ruinen, im Zentrum der ehemaligen jugoslawischen Hauptstadt, die in den Morgenstunden des 24. März 1999 erstmals seit den Bombardements der Hitler-Truppen nach dem 6. April 1941 wieder Luftangriffen ausgesetzt war. Nun also die Ruinen des Verteidigungsministeriums, des Radio- und Fernsehsenders und auch von ehemaligen Schulen, Krankenhäusern und Wohngebäuden. An vielen Stellen wird das Bild der Millionenmetropolole an Save und Donau nach wie vor von den Überresten der Zerstörungen durch die NATO-Schläge, durchgeführt aus großer Höhe, geprägt, die weder abgetragen noch wiederaufgebaut wurden.

Manche werden sicherlich dauerhaft als Mahnmale gegen den Krieg dienen. Bei anderen gibt es pragmatische Gründe, sie nicht abzutragen: Ob und wie stark die betreffenden Gelände verseucht sind, blieb bisher ungeklärt. Fest steht, daß die westlichen Angreifer Spezialmunition gegen Jugoslawien verschossen; den Einsatz von zehn Tonnen Munition mit abgereichertem Uran (DU – depleted uranium) in Raketen und anderen Geschossen gestehen sie selbst ein, doch dürfte die wirkliche Menge wesentlich höher liegen. 

»Möglicherweise«, so kommentierte Professor Dr. Siegwart-Horst Günther, der seit langem die medizinischen Folgen von DU-Munition erforscht, in einem Gespräch mit junge Welt, »atmen die Menschen also atomar verseuchte Staubpartikel ein, doch niemand kümmert sich darum. Es könnte sein, daß aus Furcht vor der Schockwirkung, die die Bestätigung einer Kontaminierung in der Bevölkerung auslösen würde, nichts unternommen wird.« Günthers Tip: Die kontaminierten Gebäudeüberreste müßten unverzüglich abgetragen und entsorgt werden. Dabei allerdings, so der Professor, handele es sich um eine gefährliche und heikle Aufgabe. »Es müßte sehr sorgfältig vorgegangen werden – und zwar von Spezialisten mit besonderen Gerätschaften.« Ohne internationale Unterstützung sei dies nicht möglich, und eigentlich sei die Beseitigung der Schäden ja Aufgabe der NATO. 

Auf weitere Gefahren, die von der aktuellen Situation ausgehen, verwiesen Radomir Kovacevic, Direktor des radiologischen Instituts in Belgrad, und Zoran Stankovic, ein Pathologe: Das Einatmen von Uranstab sei ungeheuer gefährlich. Und: Unter dem Strich habe Uranmunition eine krebsauslösende Wirkung, so Stankovioc, der als Arzt am medizinischen Zentrum des Militärs zu den Risiken geforscht hatte.

Auch in Nis, 250 Kilometer südöstlich von Begrad, stehen noch die Überreste der zerbombten Wohnhäuser. Dort war erst wenige Tage vor unserem Besuch eine Kassettenbombe auf einem Schulhausdach entdeckt und von Spezialisten aus Belgrad unschädlich gemacht worden. Diese Art von Waffe, die noch Jahre nach dem Krieg tötet, wird erst dann aktiviert, wenn Menschen mit ihr in Berührung kommen. In der Umgebung der 250000 Einwohner zählenden Stadt sterben nach wie vor Bauern durch Explosionen auf den Feldern. Zudem liegen in den Krankenhäusern viele Menschen, die einige Jahre nach dem Krieg an Krebs erkrankt sind. Die Statistik weist einen steilen Anstieg der Erkrankungen aus. Und im Kosovo sei die Rate noch höher, erklärte die Epidemiologin Natascha Lukic vom onkologischen Zentrum in Nis. Darüber werde geschwiegen. Ob auch die Nahrungskette von DU-Munition tangiert sei? Bis heute blieb diese sich aufdrängende Frage unbeantwortet. 

Die NATO hatte zielgenau – also bewußt – Infrastruktur, Fernsehstationen, Fabriken, Elektrizitätswerke, Brücken, Eisenbahnlinien und Flüchtlingskolonnen bombardiert. Und alle unsere Gesprächspartner gingen davon aus, daß große Teile der Umwelt in Serbien kontaminiert sind. Einig war man sich auch, daß die US-Air-Force Experimente mit neuen Waffen durchgeführt hat. Zumindest drängte sich ein fürchterlicher Verdacht auf: Bis heute findet sich keine schlüssige Erklärung für die Wahl eines der wichtigsten mit Uranmunition bombardierten Ziele. Warum die Attacken auf die Gegend um Urosevac im Süden des Landes, direkt im Quellgebiet von drei Flüssen. Dort befanden sich keine militärischen Einrichtungen, keine Städte, Fabriken, nichts, was von militärisch-strategischem Interesse hätte gewesen sein können. Nach serbischen Schätzungen wurden 15 Tonnen Munition mit abgereichertem Uran abgefeuert. Über die Gründe kursieren Spekulationen, die damit zu tun haben, daß von dort aus drei Flüsse ins Schwarze Meer, in die Ägäis und in die Adria fließen. Ob Tests zu den Folgen des DU-Waffeneinsatzes für diese Meere durchgeführt werden sollten, können nur die NATO-Verantwortlichen sagen. Doch die schweigen. 

Wie auch in Sachen eines anderen Vorgangs, von dem wir bei einem Treffen an der Fakultät für Arbeitssicherheit in Nis erfahren, wo wir mit Professor Srejko Nedeljkovic ins Gespräch kommen: Nicht nur DU-Geschosse, sondern andere Bomben seien in der Nähe der bulgarischen Grenze gefallen. Diese hätten die Nacht zum Tag gemacht – auch diesbezüglich könnte nur die NATO Auskunft geben, wird uns berichtet.

Doch Auskunft gibt es nicht. Im Gegenteil: Der Nordatlantikpakt betreibe, so unsere Gesprächspartner, ein gezieltes Lobbying unter Nichtregierungsorganisationen (NGO) in Serbien. Ziel sei es zu verhindern, daß sich eine im Bereich der Umwelt tätige Gruppe mit der Problematik der Uranmunition befasse. Die Einflußnahme läuft über verschiedene Kanäle. Einer davon seien natürlich die Finanzen, die nur für »passende« Projekte an serbische NGOs gegeben würden. Andererseits werde versucht, kleinere Gruppen durch Einordnung in Dachorganisationen zu vereinnahmen. 

Wir sind von unserer Reise sehr bedrückt zurückgekehrt. Wegschauen verbietet sich, und wichtige Fragen müssen einfach gestellt werden: Wer hilft? Gibt es endlich mehr Unterstützung für die überfüllten Krankenhäuser? Was wird aus der Landwirtschaft angesichts der Kontaminierung weiter Flächen? Und: Was ist mit dem Uranstaub?

---


24.03.2007 / Wochenendbeilage / Seite 4 (Beilage)

Damals in Jugoslawien


Begegnungen in einem Land mitten in Europa, das mit deutscher Hilfe zerstört wurde

Von Gerd Schumann


PHOTO: Bomben auf Nis. Am 7. Mai 1999 verlor Milenko Petrovic sein gesamtes Hab und Gut
Foto: AP

Damals, noch vor dem Krieg, saßen wir in der weißgekalkten Küche mit Herd, Tisch und Bank, an der Wand die Gusle von Milans Bruder Nicola, eine einsaitige Kniegeige, etwas eingestaubt schon, ein serbisches Traditionsinstrument. Und Lluboje Krunic nahm es sich, ein kleiner, knorriger Mann, dessen Blick uns irritierte, weil eines seiner Augen weiß und blind war. Als junger Ziegenhirte hatte ihn ein explodierender Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg schwer verletzt, deutsche Hinterlassenschaft. Holz brachte nun den Herd zum Bollern, wir saßen eng zusammen, Milan, Hannes, Neso, Cilenko, Daracenko, Dana und Bobica waren auch dabei; der alte Krunic fettete Bogen und Saite der Gusle, brachte die ersten Töne zustande, die andeutungsweise zu einer Melodie wurden, und schon setzte der Gesang ein, laut und ziemlich schräg und gewaltig. Dem selbstgebrannten Slibovitz wurde kräftig zugesprochen, und draußen garte der Hammel am Spieß. Raco von nebenan trat noch ein, brachte Pide mit Käse, ein Hüne um die zwei Meter wohl, Mitte zwanzig mit schon schlechten Zähnen, deren Lücken uns anstrahlten. Ihn begleitete seine Kusine Milica, eine Studentin aus Sarajevo, Bosniens Hauptstadt, in der es bereits an Heizstoff mangelte. Der Krieg warf erste Schatten, doch nahm sie niemand so recht wahr. Das fürchterliche Geschehen, das bevorstand, wurde erst vorstellbar, als es geschah. Vorher reichte die Phantasie dafür nicht aus.
 

Das war 1990 im Herbst, in dem bosnischen Dorf Bruzna. Eine kühle Nässe lag auf den sattgrünen Wiesen und machte die Gräser klamm. »Deutschland hat jedes Interesse daran, daß es möglichst viele sklavenfähige, auf die Wirtschaftsmacht Deutschland ausgerichtete Kleinstaaten gibt. Das wird immer klarer werden«, prophezeite der Schriftsteller Peter Handke – und es dauerte kein Jahrzehnt, da war der Vielvölkerstaat Jugslawien unter tatkräftiger deutscher Beteiligung zerschlagen, zunächst im mehrjährigen Bürgerkrieg, als die Protagonisten der Sezession seitens der Kohl-Genscher-Regierung kräftig gesponsert wurden; dann ab dem 24. März 1999 auch durch direkte militärische Angriffe der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien. 

Im Jahr 2000 kehrte ich zurück nach Bruzna, und Milan begleitete mich auf den Friedhof, in der Ferne die schwarzen Berge Montenegros, vorne ein klappriges Holztor. Dann das Grab der beiden Brüder. »Simovic, Daracenko, geboren 1974, gefallen 1993, und Simovic, Cilenko, im selben Jahr geboren, zur selben Zeit zur Schule gegangen – sie verließen uns am selben Tag.« Erschossen aus dem Hinterhalt zur selben Stunde. Sie hatten ihre Familie und das Dorf gegen eine Gruppe marodierender Diebe und Mörder verteidigen wollen – und die Eltern Budomir und Jela und Schwester Zorica errichteten das »Denkmal«, wie der Grabstein im Serbischen genannt wird. »Wir werden euch ewig in unseren Herzen tragen«, steht darauf.

Als sei es gestern gewesen, erinnere ich mich an den Augenblick, als ich Lluboje Krunic wiedertraf, den Gusla-Spieler, und ich freute mich, daß er noch lebte und seine Frau auch. Er blieb zurückhaltend, wortkarg, wollte nichts über das Vergangene erzählen, und ich bekam hautnah eine Ahnung von der Dimension des Grauens, das auf Bruzna lastete – und auf dem ganzen Land. Von Raco, Llubojes im Schrecken des Krieges um mindestens zwei Jahrzehnte gealterten Nachbarn, erfuhr ich dann doch noch von den ungezählten Nächten, die die Dörfler in selbstgebauten Unterständen verbrachten – abends aus Angst vor Überfällen das eigene Haus verlassen, morgens zurückkehren – und wie dann das Grauen so richtig begann, als es hieß: »Mars greift an« (Peter Handke über die NATO-Attacken). 

Marsianer kommen von oben. Sie bombardierten die mächtige Betonbrücke im nicht weit von Bruzna entfernten Foca und wendeten direkt über Bruzna – ein Höllenlärm, der das Grauen tief in Knochen, Herz und Kopf fahren ließ. Auch Wohnhäuser wurden getroffen. Radivoj Stepanovic war mit Ehefrau und drei Kindern in den Keller geflüchtet, über der Erde gingen alle materiellen Werte zu Bruch, unter der Erde die Psyche der 15jährigen Tochter. »Die fällt in Ohnmacht eine halbe Stunde lang, schreit dann »Flugzeuge, Flugzeuge« und fällt wieder um. Wir sind alle geistige Invaliden geworden. Krieg ist Schrecken.«

Als Vertreter des Mars daran beteiligt: USA, Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Dänemark, Norwegen, Italien, Kanada, Spanien, Portugal, Belgien – und Deutschland. Und obwohl ich wußte, daß unseren Freunden in Bruzna und anderswo im ehemaligen Jugoslawien bekannt war, daß auch Deutsche gegen den Krieg auf die Straße gegangen waren: Ich kam doch aus dem Land, das mitgebombt hatte, und ich fühlte Scham. Ich wußte, warum Lluboje Krunic, der Einäugige, uns nicht mehr zu sich einlud. 

Peter Handke, der den aufrechten Gang ging, sich direkt nach Kriegsbeginn nach Serbien traute und dafür von den Marsianern und deren Handlangern bis heute angefeindet wird, erlebte wenige Tage nach Kriegsbeginn zunächst einen scheinbar unverändert freundlichen Empfang: »Ein Tisch wird für uns ins Freie getragen, und wir bekommen eine Jause aufgetischt, wie sie gastfreundlicher nicht aussehen kann, samt montenegrinischem Krstac-Wein.« Und doch wächst in ihm stark wie nie zuvor eine »Fassungslosigkeit allein schon über den Mißbrauch der unvergleichlichen balkanischen Gastfreundschaft durch die gesamteuropäischen Zugereisten, im Kriegführen jetzt gleichsam tätlich geworden.« 

Als vor acht Jahren – im März und April 1999 – die Bomben und Raketen in Belgrad besonders dicht fielen, zogen Zehntausende auf die Donau- und Save-Brücken, sozusagen als »lebende Schutzschilde« gegen die Aggressoren aus der Luft, die unsichtbar aus ihren Tarnkappenfluggeräten den Tod abwarfen. »In Phase eins traten Schock und Angst auf«, berichtete mir damals die Psychologin Vesna Ognjenovic. Schreie in der Nacht, Schweißbäder, Horror und Zähneknirschen. »In Phase zwei spielten die Kleinen nicht wie 1941 während der deutschen Besetzung »Nazi und Partisan«, sie schlüpften generell nicht mehr in Personenrollen, sondern wurden zu »Bunker und Splitterbombe«. 

Die schwarzen Hakenkreuze an der deutschen Botschaft, gesprayte Graffitis, erinnerten an den penetranten Brandgeruch der Geschichte, als während des zweiten Weltkrieges allein in Belgrad 100 000 Menschen der Wehrmacht zum Opfer fielen. Am Eingangstor steht »Marko and Slavko are not dead«. Marko und Slavko, zwei Kinder, wurden als Metapher verstanden für den jugoslawischen Widerstand gegen deutsche Angriffe damals und heute. Die beiden jungen Partisanenkuriere waren von den Nazis hingerichtet worden. Als Comic-Helden kennt sie in Belgrad auch heute noch jedes Kind. 

Der knorrige Alte von Bruzna erzählte dann doch noch davon, daß die Obsternten nach dem Krieg schlecht ausfielen und Mißgeburten bei den Schafen auftraten, und fragte, ob das vielleicht mit den NATO-Fliegern und der Uranmunition zusammenhängt. Ich wußte es nicht und merkte, daß der 78-Tage-Krieg noch lange nicht zu Ende war.