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28.01.2004

Vlado Nadazdin

Der Balkan als NATO-Protektorat

Über die Zerschlagung Jugoslawiens und die Fragmentierung Serbiens

Die sogenannte neue Weltordnung wurde nach Beendigung des Kalten
Krieges und dem Zusammenbruch des osteuropäischen sozialistischen
Modells angekündigt und hat den Charakter der internationalen
Beziehungen seither entscheidend geprägt. Auf wirtschaftlicher Ebene
stellt sie sich als »Globalisierung« dar, auf politischer als
Hegemonie der USA und anderer entwickelter Staaten. Die neue
Weltordnung hat das Ziel, auf beiden Ebenen eine Dauerkontrolle über
globale Prozesse zu sichern, das Geistesleben in allen Regionen so
weit wie möglich zu standardisieren und anzupassen. Die USA scheuen
sich nicht, offiziell zu erklären, daß einige Grundsätze des
Völkerrechts für andere Länder gelten, jedoch nicht für sie.

Diese internationale Situation erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß die
Welt in absehbarer Zukunft häufiger mit politischen Zuspitzungen und
Militärkonflikten konfrontiert wird. Tendenziell werden diese
umfangreicher und zerstörender werden. Das wird auch die Beziehungen
zwischen den hochentwickelten Ländern des Westens berühren.

Die bewaffneten Angriffe der USA und ihren NATO-Verbündeten gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien (SRJ), gegen Afghanistan und den Irak sind
nur Warnzeichen für das, was noch kommen kann. Die rechtswidrige
bewaffnete Aggression der USA und der NATO gegen die SRJ etablierte
das Recht des Stärkeren auf Kosten der Stärke des Rechts. Die UNO und
besonders der Sicherheitsrat sind dadurch marginalisiert worden. In
globalen Friedens- und Sicherheitsfragen wurde die Weltorganisation
auf ein Nebengleis geschoben. Ihre Rolle beschränkt sich auf
Dienstleistungen, auf die Organisation von humanitären Hilfsleistungen
und den Wiederaufbau jener Staaten, die Opfer der einseitigen und
illegalen Militäraktionen der USA bzw. der NATO wurden. Wenn die
derzeitige Entwicklungstendenz nicht gestoppt wird, verliert die UNO
langsam, aber sicher den Charakter eines Völkerbundes. Es wird sich
zeigen, ob es der EU gelingt, die proamerikanische Fraktion unter
ihren Mitgliedern zu neutralisieren. Falls nicht, wird sich das »alte
Europa« langsam Rußland anschließen und seine Westorientierung durch
eine Ostorientierung ersetzen.


Das dreifache Ende Jugoslawiens

Mit dem Ausbruch der jugoslawischen Krise und besonders mit deren
Beendigung wurde der gesamte Balkan eine Interessensphäre des Westens.
Rußland hat sich praktisch aus der Region zurückgezogen, China hat
nicht einmal versucht, ständigen Einfluß zu gewinnen. Die westlichen
Interessen auf dem Balkan sind strategischer, politischer und
wirtschaftlicher Natur. Deshalb bemüht sich der Westen, alle
potentiellen Spannungen in der Region zu beseitigen und alle
Balkanländer in einem beschleunigten Verfahren in die NATO
einzugliedern und später in die EU. Wenn der Balkan unter feste
politische und militärische Kontrolle des Westens gelangt ist, sind
beispielsweise die Voraussetzungen für den Ausbau von Erdöl- und
-gasleitungen vom Kaspischen Meer bis zu adriatischen Häfen gegeben,
etwa auf der Strecke von Varna (Bulgarien) über Durres (Albanien) nach
Brindisi (Italien). Die USA haben es jedenfalls dank ihrer
Vorherrschaft auf allen führenden Gebieten erreicht, daß der Westen
einheitlich auf dem Balkan auftritt.

Die Risse, die sich zwischen der NATO und der EU am Vorabend und im
Verlauf des Irak-Krieges und bereits zuvor während der Aggression
gegen mein Land zeigten, stellen diese Einheit nicht in Frage. Der
Balkan wird allerdings die letzte Region in Europa sein, wo die Folgen
dieser Risse zu spüren sind.

Die verschiedenen Modelle, die den Balkanländern angeboten wurden –
zum Beispiel für die Assoziierung mit der oder den Beitritt zur EU –,
stellen kein Wiederaufleben des Traums von einer Balkanföderation dar,
sondern bilden nur den Rahmen für eine feste und effiziente Kontrolle
über diese Staaten. Diese Modelle benachteiligen durchweg Serbien. Das
ergibt sich nicht nur aus dem faktischen Machtverlust Serbiens über
Kosovo und Metohija (so die offizielle serbische Bezeichnung für die
Provinz), dafür spricht auch der zunehmende Druck, mit dem die
Föderalisierung des serbischen Restterritoriums erzwungen werden soll,
etwa die Forderung nach Autonomierechten für die Vojvodina und die
Sandschak-Region. Es betrifft auch die vom Westen gegen Serbien
ununterbrochen geführte Politik der Erpressung und Erniedrigung, die
unabhängig vom Sturz Milosevics fortgesetzt wurde. Die einzigen
Protektorate in Europa - und das in nicht geringer Zahl - befinden
sich auf dem Balkan.

Jugoslawien ist das einzige Land auf dem Balkan und in Europa, das im
letzten Jahrhundert dreimal einen neuen Staat gebildet und ebensooft
den Namen geändert hat – 1918, 1945 und 1992. Vor einem Jahr wurde die
Bundesrepublik Jugoslawien formell aufgelöst, jetzt heißt der Staat
Serbien und Montenegro. In Wirklichkeit ist das Staatsgebilde nur eine
lockere Föderation von befristeter Dauer.


Ständig neue Erpressungen

Serbien ist der einzige Staat in der Region und in Europa, dessen
territoriale Integrität von der NATO durch Bomben und durch Okkupation
verletzt wurde. Als Bedingung für die Aufnahme in die euroatlantischen
Organisationen verlangt man stillschweigend von uns, auf einen
beträchtlichen Teil unseres nationalen Territoriums zu verzichten.
Dabei geht es nicht nur um das Kosovo. Der Westen kann notfalls auch
die Karte der moslemischen Minderheit im Sandschak spielen oder die
Frage der Bulgaren und Walachen in Ostserbien bzw. der Ungarn in der
Vojvodina wieder aktualisieren. Der Westen will die Serben mittels
bewährter Strafmethoden zur absoluten Unterwerfung und zum Gehorsam
zwingen.

Von diesen Erpressungen kann sich Serbien entweder durch totale
Bereitschaft zur Kooperation und durch Erfüllung sämtlicher
Anforderungen des Westens befreien oder durch eine neu ausbalancierte
Politik, die sich auch auf Rußland, China und andere freundlich
gesinnte Länder stützt.

Die Außenpolitik Serbiens war nach dem Sturz Milosevics am 5. Oktober
2000 folgsam und gefügig. Die neue pro-westliche Regierung aus den
Parteien des DOS-Bündnisses erfüllte pedantisch und gehorsam alle
Anforderungen, die führende westliche Länder formuliert haben. Die
offizielle Staatsgewalt hat praktisch auf Verhandlungen als Methode
zur Erreichung ihrer nationalen und staatlichen Ziele verzichtet. In
vorauseilendem Gehorsam hat die Regierung den Anspruch auf die Rechts-
und Vermögensnachfolge sowohl für die Sozialistische Föderative
Republik Jugoslawien (SFRJ, bis 1992) wie für die Bundesrepublik
Jugoslawien (SRJ, bis 2003) aufgegeben. Sie hat sogar zugestimmt, den
eigenen Staat abzuschaffen und seinen Namen zu ändern. Aus dem
ältesten Staat auf dem Balkan in der neueren Geschichte, der seine
Unabhängigkeit mit eigenen Kräften errungen hat, wurde über Nacht der
jüngste Staat, der sich seine die Verfassung von fremden Schirmherrn
wie Solana diktieren ließ.

Und dabei sind die Forderungen des Westens an Serbien nach dem Sturz
Milosevics nicht weniger geworden, sondern haben sich praktisch
verdoppelt. Ich nenne nur einige: die erwähnte Aufgabe der Rechts- und
Vermögensnachfolge für SFRJ und SRJ, die Zusammenarbeit mit der UNO
bei den Gemeinde- und Regionalwahlen im Kosovo, immer neue
Auslieferungen an das sogenannte Haager Tribunal, die sogenannte
Reform von Armee und Polizei, das heißt ihre Unterstellung unter
NATO-Kontrolleure, proalbanische Reformen in Südserbien, das
Zurückziehen der Klage gegen die NATO vor dem Internationalen
Gerichtshof in Den Haag, der Abbruch der militärischen und politischen
Zusammenarbeit mit der serbischen Republik in Bosnien. Zusammengefaßt
ergibt sich als Bild, daß von unserer Unabhängigkeit und Souveränität
sehr wenig geblieben ist.

Das willfährige Benehmen der DOS-Regierung gegenüber den USA, der NATO
und der EU ist die Gegenleistung für deren Unterstützung bei den
Wahlen im Jahr 2000.

Das Gefängnis von Den Haag wird immer mehr zum Versammlungsplatz für
die gesamte politische und militärische Führung der Serben der
neunziger Jahre, sowohl aus der Bundesrepublik Jugoslawien wie aus der
Republik Srpska in Bosnien und der serbischen Krajina-Republik. Durch
diese Parteilichkeit ist der letzte Schleier, hinter dem sich dieses
angebliche Tribunal als unabhängige politische Institution aufspielte,
zerrissen worden. Die Ungleichheit meines Landes gegenüber den anderen
ehemaligen jugoslawischen Republiken sieht man auch daran, daß nur
Serbiens territoriale Integrität nicht garantiert ist. Alle anderen
ehemaligen jugoslawischen Republiken wurden auf der Grundlage ihrer
Grenzen aus der Tito-Zeit als neue Staaten anerkannt, nur für Serbien
soll das nicht gelten. Die sogenannte Verfassungsurkunde des neuen
»Staatenbundes« Serbien und Montenegro wurde seitens der EU diktiert,
wodurch sich der neue »Verbund« offen unter das ausländische Patronat
gestellt hat. Daraus ergab sich, daß mein Land ohne ein Minimum an
Würde und Selbstachtung geblieben ist.


Eine neue Regierung ist das Wichtigste

Leider ist Gott so weit und Amerika so nahe und die multilaterale Welt
nicht in Sicht. Unser Haus wurde von der einzigen Supermacht besetzt.
Wenn man diese spezifischen Umstände und Hypotheken, welche mein Land
belasten und seine Souveränität beschränken, näher analysiert, stellt
sich die Frage, ob diese Belastungen und Einschränkungen ein
unvermeidbares Schicksal darstellen oder ob sie beeinflußbar und ihre
schwersten Folgen vermeidbar sind. Meiner Meinung nach gibt es
durchaus Alternativen zur jetzigen Situation. Unsere nationalen und
staatlichen Interessen könnten durch vernünftige Kooperation
realisiert werden. Solche Alternativen setzen aber voraus, daß mein
Land ein aktives und gleichgestelltes Subjekt im Prozeß der
europäischen Integration wird und nicht ein komplexvoller oder
frustrierter Teilnehmer bleibt, zu dem uns die DOS-Regierung und ihr
Außenminister Svilanovic gemacht hat.

Es ist unentbehrlich, daß mein Land vom einfachen Zulieferer für Den
Haag zum Verhandlungspartner wird, der eigene Interessen formuliert
und Forderungen stellt. Die bisherige DOS-Regierung verfügte nicht
über die erforderliche Autonomie, Willenskraft und Selbständigkeit
gegenüber der euroatlantischen Gemeinschaft, um die Interessen unseres
Landes vertreten zu können. Deshalb stellt sich nicht die Frage, ob
wir neue Beziehungen der Partnerschaft und des Vertrauens mit der
Staatengemeinschaft aufbauen können, sondern mit welcher Regierung
dies zustande kommen kann. Ich hoffe, daß eine Vasallenregierung wie
bisher nach den Parlamentswahlen vom 28. Dezember nicht mehr gebildet
werden kann, sondern daß eine authentische nationale Regierung ins Amt
kommt, welche ausschließlich dem Volk und dem Parlament verantwortlich
ist. (Bei den Wahlen erhielten die Demokraten, die wichtigste Partei
des DOS-Bündnis, nur elf Prozent. Dagegen kam die NATO-kritische
Radikale Partei auf über 27 Prozent. Im Bündnis mit den Sozialisten,
die über sieben Prozent, und den Nationaldemokraten der DSS, die über
18 Prozent erhielten, könnte rein rechnerisch eine Regierung gebildet
werden, die selbstbewußt gegenüber dem Westen auftritt. Doch der Druck
besonders auf die DSS des letzten jugoslawischen Präsidenten Vojislav
Kostunica ist enorm, so daß bis dato – vier Wochen nach dem Urnengang
– noch keine neue Regierung zustande kam. - Anm. der Redaktion)

Diese Frage ist nicht theoretischer Natur, sondern stellt sich ganz
praktisch. In einem oder zwei Jahren, wenn die Frage der
Unabhängigkeit von Kosovo und Metohija auf die Tagesordnung kommt,
wird mein Land auf die Probe gestellt werden, ob es den Verlockungen
und dem Druck der USA und der EU erliegt und auf dieses historische
serbische Land verzichtet, oder ob es widersteht und entschlossen
seine territoriale Integrität unter Einschluß des Kosovo verteidigt.
Die Befürchtung, daß auch die nächste Regierung nachgiebig sein und
die außenpolitische Orientierung der vorherigen fortsetzen wird, ist
leider berechtigt. Auch sie könnte dem einheimischen und fremden Druck
zur Abspaltung der Vojvodina und zur weiteren Föderalisierung
Serbiens, was euphemistisch Regionalisierung genannt wird, keinen
Widerstand leisten.

Vor diesem Hintergrund wünsche ich von ganzem Herzen, daß eine neue
Regierung die dreijährige finstere politische Praxis der durch einen
Putsch am 5. Oktober 2000 gebildeten DOS-Regierung auf den Misthaufen
der Geschichte befördern wird und daß eine Zeit kommt, in welcher die
neu gewählten Politiker und Patrioten mehr Rücksicht auf die
Bedürfnisse des eigenen Volkes und die Interessen des eigenen Staates
nehmen.


Vlado Nadazdin war bis zum 5. Oktober 2000 Generalkonsul der
Bundesrepublik Jugoslawien in Düsseldorf. Dem jugoslawischen
Präsidenten Slobodan Milosevic diente der Diplomat in den neunziger
Jahren häufig als Berater, zum Beispiel bei der Konferenz von Dayton
Ende 1995. Heute arbeitet Nadazdin als PR-Experte in einer großen
Belgrader Außenhandelsfirma und unterstützt die Verteidigung von Milosevic