RtoP
Die aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die die Entwicklung neuer Operationsmodelle für sogenannte humanitäre Interventionen fordert, bezieht sich auf das Prinzip der "Responsibility to Protect" (RtoP, R2P). Dabei handelt es sich um ein Konzept, das nach Anstößen des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan in den Jahren 2000 und 2001 entwickelt worden ist, um "humanitären Interventionen" eine formelle Legitimation zu verschaffen. Erarbeitet worden ist es maßgeblich von einer in Kanada eingesetzten Kommission ("International Commission on Intervention and State Sovereignty", ICISS), der einflussreiche westliche Militärs angehörten, darunter etwa der einstige Generalinspekteur der Bundeswehr und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann.[1] Teile des Konzepts sind in abgemilderter Form im Jahr 2005 vom UNO-Weltgipfel angenommen worden. Demnach sind alle Staaten verpflichtet, ihre Bevölkerung gegen Völkermord und andere Massenverbrechen zu schützen. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, dann bestehe bei den UN eine "Verantwortung" ("responsibility"), den Schutz der Bevölkerung durchzusetzen. Dazu seien, heißt es in dem UNO-Dokument, diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel zulässig.
Lieber keine Kriterien
Zentrale Bedeutung kommt bei der "Responsibility to Protect" drei Aspekten zu. Der erste besteht darin, dass der Westen sich grundsätzlich auch militärische Mittel offenhält, um bei tatsächlichen oder angeblichen Massenverbrechen einzuschreiten. Andere Staaten lehnen dies ab. Auch weisen Experten darauf hin, dass gerade die westlichen Staaten die "Einführung von Kriterien" verhindert haben, "die den Prozess der Entscheidungsfindung (...) in irgendeiner Form beeinflussen könnten".[2] So sei etwa in den Beschlüssen des UNO-Weltgipfels 2005 "an keiner Stelle" auf die durch die ICISS "vorgeschlagenen Kriterien zur Legitimierung militärischer Maßnahmen Bezug genommen" worden. Da Kriterien fehlen, stehen der Willkür Tür und Tor offen; man kann intervenieren, wo es die eigenen Interessen nahelegen, woanders jedoch Massaker geschehen lassen. Drittens ist es bei dem globalen Ungleichgewicht politischer, ökonomischer und militärischer Macht undenkbar, dass sich im Namen einer förmlich kaum geregelten "Responsibility to Protect" schwächere Länder des Südens etwa zur Eindämmung von Kriegsverbrechen gegen die hegemonialen Staaten des Westens durchsetzen können. Damit allerdings erweist sich "RtoP" als westliches Willkürinstrument zur Legitimierung der eigenen militärischen Interventionen.
Welt der Interessengegensätze
Wie es nun in dem neuen Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung heißt, sei die "Responsibility to Protect" mit dem Militäreinsatz in Libyen "auf ein neues Niveau befördert" worden.[3] Schließlich habe der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit seiner Resolution 1973 vom 17. März 2011 zum ersten Mal "eine militärische Intervention zum Schutz einer Zivilbevölkerung mit Verweis auf diese Schutzverantwortung beschlossen". Die Studie räumt ein, dass die UNO-Resolution ausschließlich Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung vorsah, während die NATO unter Inkaufnahme von Opfern unter der Zivilbevölkerung einen Regimewechsel herbeibombte. Allerdings behaupten die Autoren, zum Schutz der Zivilbevölkerung könne ein militärisch herbeigeführter "Regimesturz" ein legitimes Mittel sein. Die blanke Willkür, die dem Befinden darüber zugrunde liegt, wann und unter welchen Umständen ein "Regimesturz" zulässig sein soll, wird in der Studie eingestanden: So heißt es, die "Responsibility to Protect" sei kein "abgehobenes Normengebilde", sondern ein "Ringen (...) in einer Welt der Inkonsequenz und Interessengegensätze". Der angeblichen "Legitimität" des Libyen-Krieges schade das jedoch nicht.
Handlungsoptionen ausweiten
Tatsächlich plädiert die Ebert-Stiftung dafür, das Konzept der "Responsibility to Protect" sorgfältig weiterzuentwickeln - insbesondere im Hinblick auf Kriegsinterventionen. So stelle sich "die Frage einer besseren Umsetzung der Schutzverantwortung auch im militärischen Bereich".[4] Streitkräfte seien bei "humanitären Interventionen" mit "einem weitestgehend unbekannten Operationstypus konfrontiert", der "einzigartige Herausforderungen birgt und daher einer eigenen zivil-militärischen Doktrin bedarf". Bei deren Entwicklung müssten möglichst rasch "Fortschritte erzielt" werden - um "die Handlungsoptionen der Politik" auszuweiten. Dabei verweisen die Autoren der Studie - Volker Lehmann von der New Yorker Außenstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung und Robert Schütte von der Menschenrechtsorganisation Genocide Alert - auf ein US-amerikanisches Programm namens "Mass Atrocity Response Operation Project" ("MARO Project"). Im Rahmen des MARO Project wird seit 2007 an Strategien gearbeitet, wie Militärinterventionen im Falle blutiger Massenkämpfe am besten zu gestalten seien. Kooperationspartner sind ein Forschungszentrum der Harvard University sowie eine Einrichtung des U.S. Army War College.
Illegal, illegitim, verwerflich
Während die Friedrich-Ebert-Stiftung künftige Gewaltoperationen fest in den Blick nimmt, übt ein Völkerrechtsprofessor von der Universität Hamburg scharfe Kritik an ihrem aktuellen Bezugspunkt - am Libyen-Krieg. Wie Reinhard Merkel urteilt, haben die NATO-Staaten die Resolution 1973 zum Schutz libyscher Zivilisten nicht nur eklatant gebrochen, indem sie bei zahlreichen Bombardements Zivilisten töteten, um einen Regimesturz herbeizuführen. Völkerrechtswidrig habe auch "die Verlängerung der Gewaltanwendung noch nach der offenkundigen Entmachtung Gaddafis" - etwa bei den Angriffen auf Sirte - "Tausende Libyer ebenjenes Leben gekostet (...), das zu schützen der Auftrag der NATO gewesen ist". Es sei alles in allem "illegal, illegitim und verwerflich, jedes politische Ziel, das man außer dem autorisierten mit seiner Gewaltanwendung noch verfolgt (...), unter einen zur Gestaltlosigkeit gedehnten Begriff von 'Schutz' zu subsumieren, damit alle Grenzen der erlaubten Gewalt zu sprengen und dies von Tausenden der solcherart 'Beschützten' mit dem Leben bezahlen zu lassen".[5]
Maskerade
Wie Merkel erklärt, habe der Libyen-Krieg sogar das Prinzip der "Responsibility to Protect", das der Völkerrechtler persönlich als "erfreulich" beurteilt, schwer verletzt.[6] "Wie alle Hilfspflichten ist die RtoP in ihrem Inhalt unbestimmt", schreibt der Völkerrechtler: "Das empfiehlt sie geradezu als Maskerade für jederlei sonstigen Zweck." Paradebeispiel sei die Maskierung des Ziels, Gaddafi zu stürzen, mit dem "Schutz der Zivilbevölkerung". Für die "Mehrheit der Staaten", urteilt Merkel, "dürfte auf die RtoP ein finsterer Schatten des Zweifels gefallen sein." Dieser Schatten werde die Weiterentwicklung des Konzepts, dessen militärische Komponente die Friedrich-Ebert-Stiftung gerade mit Blick auf den Libyen-Krieg propagiert, noch "lange begleiten und irritieren".