ZUR KORRUPTION INTERNATIONALER STRAFJUSTIZ

Von Klaus von Raussendorff


Das Verfahren zum Lockerbie-Anschlag von 1988, das demnächst vor dem
Obersten Schottischen Gericht überprüft werden soll, ist ein frühes
Beispiel für den Einsatz internationaler Strafgerichtsbarkeit gegen
Länder, die sich gegen die USA und ihre Verbündeten unbotmäßig
verhalten. Sondertribunale z.B. gegen Jugoslawien, Ruanda, Irak und
jüngst Libanon (Syrien) etc. bedrohen nicht nur das friedliche
Zusammenleben der Völker. Auch ein eisernes Prinzip der liberalen
Demokratie bleibt dabei auf der Strecke: Die Gewaltentrennung
zwischen vollziehender Gewalt und Recht sprechender Gewalt.

Die "Grenzlinie zwischen einem unparteiischen Verfahren und
Siegerjustiz ist schnell überschritten, wenn das Erfordernis der
Unparteilichkeit keinen Rückhalt in einer institutionellen
Unabhängigkeit hat," meint Professor Hans Köchler. Eine solche
Unabhängigkeit sei bei keinem dieser Sondergerichte gegeben gewesen.
In einem Forschungspapier der International Progress Organisation 1)
kritisiert der österreichische Philosophieprofessor, Autor eines
Standardwerkes zum Thema 2) Status und Struktur dieser
Sondergerichte. Er zeigt, dass universelle Gerichtsbarkeit nicht
regionalisiert werden kann (ausgenommen wie beim Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof des Europarats in einem permanenten
regionalen Organisationsrahmen).

Die Sondertribunale des UN-Sicherheitsrats für das ehemalige
Jugoslawien und Ruanda seien "von Anfang an nicht in der Lage
gewesen, ihre Glaubwürdigkeit als echte Gerichte zu begründen." Das
Internationale Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in
Den Haag, vor dem der Prozess gegen Präsident Slobodan Milosevic bis
zu dessen ungeklärtem Tod in der Haft stattfand, habe "als ein
politisches Forum agiert und das Recht im wesentlichen für die Zwecke
einer Staatenkoalition benutzt, die politisch und militärisch im
ehemaligen Jugoslawien intervenierte." Die einzige Bestimmung der
Charta der UN, auf die sich der Sicherheitsrat bei seinem -
"rechtlich unhaltbaren" - Anspruch auf ein Mandat zur Schaffung
irgendwelcher Tribunale stützt, ist Art. 39. Dieser regelt
Zwangsmaßnahmen zur Wahrung von Frieden und Sicherheit. Er definiert
keine gerichtliche sondern eine politische Kompetenz. Die
Verwechslung und Vermischung der Ausübung exekutiver Gewalt durch den
Sicherheitsrate mit der Ausübung internationaler Strafgerichtsbarkeit
ist nach Auffassung von Köchler eine verhängnisvolle Fehlentwicklung.

Daher konnte auch das internationale Verbrechen des Lockerbie-
Anschlag vor einem regionalen - oder quasi-regionalen - Sondergericht
"nicht in einer glaubwürdigen und konsistenten Weise strafrechtlich
verfolgt werden." Formal handelte es sich um ein Vorhaben der
schottischen Justiz unter extraterritorialen Gegebenheiten auf
holländischem Boden vor einem Gericht, das als ein Sondergericht
gemäß einer Sicherheitsratsresolution nach Kapitel VII der UN-Charta
eingerichtet worden war. Die Regierungen der USA, Großbritanniens und
Libyens hatten sich nicht über die Auslegung der Montreal-Konvention
von 1971 zur Sicherheit der Zivilluftfahrt einigen können. "Wegen der
- fast unvermeidlichen - Politisierung des Verfahrens, die sich aus
dieser Konstellation ergab, produzierte das Verfahren wie auch das
Berufungsgericht höchst inkonsistente Urteile." Der Fall muss nun vor
dem Obersten Schottischen Gericht neu aufgerollt werden.

Der "Irakische Oberste Strafgerichtshof" ist ein weiteres
abschreckendes Beispiel. "Dieses Tribunal ist kein Gericht, weil es
auf Anordnung der Besatzungsmacht in Verletzung der Dritten Genfer
Konvention eingerichtet wurde." Als ein von den USA initiiertes
Sondergericht "soll es sich mit internationalen Verbrechen der Führer
eines besiegten Landes - oder Mitgliedern einer abgesetzten Regierung
- befassen". Dadurch gerate "die ganze Operation des Gerichtshofs
unter (direkte) Kontrolle der führenden Besatzungsmacht." Deren
"strategische Interessen" bestimmen die Erhebung von Beweisen, die
Auswahl der Verdächtigen, die Abfassung der Anklagen etc." (nicht zu
reden von der Ausbildung des Gerichtspersonals im Ausland durch
Experten der USA und Großbritanniens). Der "gemischt innenpolitisch-
regionale Rahmen" des Tribunals garantiere eine "fast totale
Kontrolle" der USA auf Grund der Invasion des Landes, für welche die
Führer der USA jedoch nicht vor einem unparteiischen internationalen
Gericht zur Verantwortung gezogen werden können. Denn der
Internationale Strafgerichtshof besitze keine autonome
Gerichtsbarkeit. Die USA könnten mit ihrem Veto im Sicherheitsrat
seine Befassung verhindern.

Ähnlich verhält es sich laut Professor Köchler mit der "ziemlich
erratischen Praxis universeller Gerichtsbarkeit durch die belgische
Justiz auf der Basis eines Gesetzes über Kriegsverbrechen von 1993."
Dass dieses von der außenpolitisch in Schwierigkeiten gebrachten
belgischen Regierung im Wege von Novellierungen ziemlich schnell
wieder erledigt worden sei, habe "dem naivsten Beobachter
internationaler Vorgänge gezeigt, dass die Anforderungen an eine
globale Justiz nicht mit den außenpolitischen Interessen eines
Nationalstaates vereinbar sind."

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag könnte nach Meinung
von Professor Köchler vielleicht einmal "einen angemessenen
Verfahrensrahmen für die Ausübung einer universellen Gerichtsbarkeit
abgeben, wenn eines Tages die mächtigen Staaten, einschließlich aller
permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates, dem Statut von Rom
beigetreten sein werden." Doch das Statut des IStGH räumt dem
Sicherheitsrat eine privilegierte Rolle ein. Dieser entscheidet, ob
Ermittlungen oder Anklagen dem IStGH zugewiesen oder entzogen werden.
Damit hat das höchste Exekutivorgan der UN die Kontrolle über die
Ausübung der Rechtsprechung des Gerichts. "Das bedeutet, das das
unerlässliche Erfordernis einer Gewaltentrennung nicht einmal im
Statut des IStGH erfüllt ist." Soweit Professor Köchler.

Das jüngste Internationale Tribunal, das der Sicherheitsrat am 30.
Mai zur Verfolgung der Verantwortlichen für die Ermordung des
ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri beschloss,
ähnelt auffällig dem Vorgehen gegen Libyen im Lockerbie-Fall. Auch im
Libanon geht es um einen spektakulären Terroranschlag. Auch hier sind
die politischen Nutznießer des Terrors die USA, Israel und ihre
libanesischen und andere Verbündeten. Auch hier soll ein arabisches
Land, Syrien, unter Druck gesetzt werden. Und auch hier arbeitete der
erste Ermittler, der Berliner Staatsanwalt Detlev Mehlis, mit
fragwürdigen Methoden und Behauptungen. Durch öffentliche spekulative
Behauptungen lenkte Mehlis den Verdacht auf Syrien. Auf sein Geheiß
wurden vier libanesische Generäle verhaftet, die bis heute ohne
konkrete Tatvorwürfe, geschweige denn eine Anklage ihrer Freiheit
beraubt werden. "Mehlis stand unter dem Einfluss einer bekannten
libanesischen Gruppe. Er war Opfer von Manipulationen bestimmter
Mitglieder dieser Gruppe und von Pressionen der USA." So ein intimer
Kenner der libanesischen Politik, der damalige französische
Kommandant der Friedenstruppe UNIFIL, General Alain Pellegrini, im
Interview mit der Hezbollah nahe stehenden Wochenzeitung Al Intiqad
v. 13. Juli. Mehlis Nachfolger, der Belgier Serge Brammertz sei
dagegen "ein erfahrener Mann, der fern von allen Pressionen und von
Politisierung arbeitet."

Wenn der Verwilderung der internationalen Strafjustiz auch
hauptsächlich dadurch Grenzen gesetzt werden, dass die betroffenen
Länder und Völker gegen die eigentliche Ursache dieser pseudo-
juristischen Barbarei, nämlich gegen die Kriege und Interventionen
der Großmächte, Widerstand leisten, so können und müssen doch auch
die Möglichkeiten genutzt werden, die in westlichen Ländern gegeben
sind. In der Tradition des "Russel Tribunal" von 1967 gegen den
Vietnam-Krieg entstanden Tribunale der zivilen Öffentlichkeit zum
Jugoslawien-Krieg und zum Irak Krieg. Sie haben Verantwortliche
namhaft gemacht und Kriegsverbrechen dokumentiert. So war es schon
heute möglich, Beweismaterial zu sammeln, damit bisher unbehelligte
Hauptkriegsverbrecher vielleicht eines Tages vor ordentlichen
Gerichten zur Verantwortung gezogen werden können. In Deutschland
wurde Strafanzeige gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister
Rumsfeld gestellt, sie scheiterte jedoch bisher an der NATO-
Bündnistreue der deutschen Justiz. Als während des Verfahrens gegen
Präsident Slobodan Milosevic Spendengelder für seine Verteidigung von
einer deutschen Oberfinanzdirektion und höheren politischen Instanzen
in missbräuchlicher Ausnutzung einer EU-Richtlinie beschlagnahmt
wurden, konnte der Eingriff gerichtlich abgewehrt werden. Immerhin
handelte es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht
auf Verteidigung vor Gericht. Wichtig ist auch die politische und
juristische Aufarbeitung der Rolle der Internationalen
Straftribunale. Zum ICTY gibt es auf der Webseite www.free-slobo.de
eine umfangreiche Dokumentation. Auch liegen inzwischen Bücher über
den Milosevic-Prozess von Cathrin Schütz, John Laughland und Germinal
Civikov vor. 3) Und der juristisch-politische Kampf gegen das
Tribunal muss auch deshalb weitergehen, weil dieses für den Tod von
Milosevic verantwortlich zu machen ist. Die Familie Milosevic fordert
mit Unterstützung des Internationalen Komitees für die Verteidigung
von Slobodan Milosevic Aufklärung der Todesumstände und Bestrafung
der Verantwortlichen (siehe: http://www.jungewelt.de/2007/07-16/047.php)

Schließlich ist zu betonen, dass die Korruption der internationalen
Strafjustiz auch als eine parallele Entwicklung zum innerstaatlichen
"Antiterrorkampf" zu sehen ist, der sich seit den Terroranschlägen in
den USA am 11. September 2001 immer mehr als ein enormes
Umorientierungs-, Umerziehungs- und Umgestaltungsprogramm erweist.
Eine zusammenfassende Übersicht über die "Sicherheitsmaßnahmen" der
letzten Zeit bietet der Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner,
Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, in seinem
jüngsten Buch 4). Anscheinend geht es um ein regelrechtes Programm
der Demontage hergebrachter Grundsätze des Völkerrechts, der
Menschen- und Bürgerrechte und des liberal-demokratischen
Rechtsstaates geht.


Anmerkungen:

1) Webseite der International Progress Organisation (I.P.O.) www.i-p-
o.org .

2) Hans Köchler, Global Justice or Global Revenge? International
Criminal Justice at the Crossroads, (Springer-Verlag) Wien, 2003.

3) Cathrin Schütz, Die NATO-Intervention in Jugoslawien -
Hintergründe, Nebenwirkungen und Folgen, (Braumüller Verlag, Ethnos
Bd.62 XII), Wien 2003; John Laughland, Travesty, The Trial of
Slobodan Milosevic and the Corruption of International Justice,
(Pluto) London, 2007; Germinal Civikov, Der Milosevic-Prozess -
Bericht eines Beobachters (Promedia) Wien 2006.

4) Rolf Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors -
Kollateralschäden an der ,Heimatfront', (konkret Literaturverlag),
Hamburg 2007


Quelle: Anti-Imperialistische Korrespondenz (AIKor) -
Informationsdienst der Vereinigung für Internationale Solidarität
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Redaktion: Klaus von Raussendorff
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